„Agromafias“ – Organisierte Kriminalität und Landwirtschaft

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„Die italienische Küche ist das erfolgreichste Exportprodukt des Belpaese, und nicht minder sind es italienische Lebensmittel. In anderen europäischen Ländern wie Deutschland werden diese insbesondere von zahlungskräftigen Konsumentinnen erworben, für die beim Einkauf nachhaltige und sozial gerechte Produktion sowie durch Gütesiegel zertifizierte Qualität im Vordergrund stehen. Was aber tatsächlich beim Italiener des Vertrauens oder in der eigenen Hobbyküche auf den Tisch kommt, sind oft Produkte, die wahrscheinlich wohlschmeckend sind, diese Kriterien aber nur teilweise oder gar nicht erfüllen. Es ist nur wenigen bekannt, dass die Organisierte Kriminalität in Italien eine Vielzahl von Möglichkeiten hat, entlang der landwirtschaftlichen Produktionskette mit illegalen Aktivitäten immense Profite zu scheffeln. Dazu gehören unter anderem die Verfälschung, Verpanschung oder falsche Deklarierung von Lebensmitteln, wie zum Beispiel Olivenöl, aber auch am Beginn der Wertschöpfungskette gibt es verschiedene Möglichkeiten, durch den Einsatz illegaler Arbeitskräfte oder Subventionsbetrug zu profitieren.

Der große Vorteil dabei ist, dass es sich in jedem Fall um ein legales Endprodukt handelt, das frei handelbar und begehrt ist sowie von wesentlich mehr Konsumentinnen in höheren Frequenzen erworben wird. Wie Professor Stefano Masini vom Osservatorio sulla criminalità nell’agricoltura e sul sistema agroalimentare, einem Thinktank zum Thema Kriminalität im Agrarsektor in Rom, in der Financial Times vom 08.11.2018 zitiert wird, ist der Sektor zudem sehr krisenfest und unterliegt kaum konjunkturellen Schwankungen.
Insbesondere die traditionellen Mafiaorganisationen sind historisch stark mit dem landwirtschaftlichen Sektor verwoben: beispielsweise stammen die großen Bosse der Cosa Nostra aus ärmlichen, ländlich geprägten Verhältnissen und haben mit heutzutage harmlos wirkenden Straftaten wie Viehdiebstählen begonnen. Auch die italienische Bezeichnung eines Mafiaclans – cosca – bezieht sich auf ein Lebensmittel: die Artischocke. Wie der italienische General Giuseppe Governale einmal erläutert hat, ist die Mafia tatsächlich wie eine Artischocke aufgebaut: Jedes einzelne Blatt ist verbunden mit dem Herz. Zeitgleich sind auch viele Nicht-Mafiosi in dem Sektor aktiv, da sich auch mit oft simplen Methoden, wenigen Mitwissenden und ohne die Rückendeckung einer großen Organisation hohe Gewinne erzielen lassen. Ungeachtet dieses Sachverhalts wird für dieses Thema dennoch oft pauschal der Begriff „Agromafia“ verwendet, was in der Bedeutung aber eher analog zu Wortkreationen wie der „Baumafia“ zu interpretieren und daher nicht wörtlich zu nehmen ist.


Definitionen und Einordnung des Themas

Wie genau agiert diese “Agromafia”, und wer steckt hinter dem plakativen Begriff? Aufgrund der Komplexität der Antwort widmen wir uns dem Thema in einer ganzen Artikelserie, bieten aber im Folgenden vorab ein paar kurze Definitionen anderer Organisationen an.

Zunächst ist es sinnvoll, den Begriff “Agromafia” im Plural zu verwenden. So wurde etwa in der Operation “Salib” (2005) der italienischen Carabinieri eine albanische Gang aufgedeckt, die in Kooperation mit italienischen ‘Ndrangheta-Clans landwirtschaftliche Betriebe als logistische Basis nutzte, um kriminelle Aktivitäten wie Drogen- und Waffenhandel, Zwangsprostitution, aber auch die Versklavung illegaler Einwanderer in der Landwirtschaft zu organisieren. Mafianeindanke beschäftigt sich im Rahmen dieser Artikelserie deshalb nicht nur mit kriminellen Vereinigungen mafiösen Typs[1], sondern mit allen Formen von Organisierter Kriminalität, die unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen und mit Gewinnerzielungsabsicht im landwirtschaftlichen Sektor aktiv sind. Dabei sind Verbindungen zu den bekannten italienischen Mafias von besonderem Interesse. Gleichzeitig will mafianeindanke aber auch allgemein über den Entstehungskontext und die gesellschaftlichen Folgen strukturell verwurzelter Kriminalität in der italienischen Landwirtschaft aufmerksam machen.

Die freie Online-Enzyklopädie Wikimafia definiert den Begriff “Agromafias” wie folgt: Agromafias ist die gängige Bezeichnung für jene kriminellen Organisationen, nicht nur mafiöser Art, die im landwirtschaftlichen Sektor und allgemein in der Lebensmittelproduktion tätig sind, und dort u.a. Lebensmittel panschen oder anders verfälschen sowie Fälschungen von Etikettierungen, geschützten Marken und Gütesiegeln vornehmen[2].
Ein Schlüssel zum Erfolg in diesem Geschäft ist die Kontrolle der Lieferkanäle. Relevant in diesem Zusammenhang ist besonders die Grande Distribuzione Organizzata (GDO), der Großhandel in Italien. Dazu zählen sowohl Vertrieb zwischen Grossistinnen als auch Vertriebsketten zwischen Einzelhändlerinnen. Die Möglichkeit, durch umfassende Kontrolle dieser Kanäle den Markt für sich zu vereinnahmen, wirkt für die Organisierte Kriminalität besonders attraktiv.
Außerdem fällt auch das sogenannte “Caporalato” (Englisch: Gangmaster System) unter den Überbegriff “Agromafias”, die “illegale Ausbeutung günstiger Arbeitskräfte unter Missachtung des Arbeitsrechts” oder, konkreter, laut einem Glossar der Rosa-Luxemburg-Stiftung:
“Die illegale Anwerbung von Arbeitskräften durch Arbeitsvermittler (Caporalato) […] Die Arbeiterinnen werden meist auf Tagesbasis angestellt, bezahlen Abzüge beispielsweise für den Transport an den Arbeitsplatz, und erhalten daher eine Entlohnung, die meist weit unter den geltenden Mindestlöhnen liegt. Im Obst- und Gemüsesektor Italiens ist diese Praxis der Ausbeutung von Arbeiterinnen weit verbreitet. Diverse Gesetzesinitiativen haben darauf hingearbeitet, diesem mafiösen System einen Riegel vorzuschieben, ein Problem ist jedoch die mangelnde Kontrolle.”
Caporalato findet in ganz Italien statt, nicht nur in den südlichen Regionen. Das Problem betrifft innerhalb der Landwirtschaft verschiedenste Bereiche, von der Obsternte über die Viehzucht bis zu Bauwesen und Trägerarbeit. 180.000 Tagelöhnerinnen sind aktuell in Italien von dieser Form der Ausbeutung bedroht. In diesen Kontext gehört auch die besondere Betroffenheit von Frauen und, damit verschränkt, der Migrantinnen, deren ausländer- und arbeitsrechtlich fragile Situation, herbeigeführt durch mangelnden Schutz und Integration durch den italienischen Staat, leicht ausgenutzt werden kann. Immer wieder sterben Menschen durch die Folgen der harten Lebens- und Arbeitsbedingungen. Der Slogan der italienischen Aktivistin Diletta Bellotti “Made in Italy is Made of Blood” übertreibt nicht: An unseren Lebensmitteln klebt Blut.

Darüber hinaus bietet der landwirtschaftliche Sektor der Organisierten Kriminalität auch umfangreiche, einfach nutzbare Möglichkeiten zur Veruntreuung und Abzweigung staatlicher und supranationaler Gelder. Insbesondere in Sizilien wurden in den vergangenen Jahren im großen Stil EU-Subventionen für den Agrarsektor von der Mafia vereinnahmt. Der sizilianische Politiker Giuseppe Antoci, der eine deutlich stärkere Regulierung durchgesetzt und den Vorweis eines Antimafia-Zertifikats auch für verpachtete Agrarflächen, deren Wert unter 150.000 Euro liegt, verpflichtend gemacht hatte, wurde 2016 um ein Haar Opfer eines Attentats. Eine weitere, weniger bekannte Aktivität ist hingegen groß angelegter Arbeitslosengeldbetrug im landwirtschaftlichen Sektor. Die Journalisten Gian Antonio Stella und Sergio Rizzo berichten in ihrem Buch „Se muore il sud“ von nur auf dem Papier existierenden, auf den Namen von Strohmännern registrierten Unternehmen, die Landarbeiterinnen so lange zu beschäftigen vorgeben, bis eine Mindestperiode erreicht ist, die die/den Arbeitnehmerin zum Bezug des Arbeitslosengeldes für das restliche Jahr berechtigt. Oft werden diese Arbeiter*innen tatsächlich auf andere Weise oder gar nicht beschäftigt, während das nach der Kündigung erfolgreich beantragte Arbeitslosengeld abgezweigt wird.

Zuletzt fasst der sechste Bericht des Forschungsinstituts Eurispes sogar noch die illegale Giftmüllentsorgung und 30.000 jährliche Öko-Delikte[3] unter das Themenfeld “Agromafias”. Zusammenfassend kann das Schlagwort “Agromafia” sehr breit definiert werden und bleibt zunächst schwammig. Mafianeindanke wird sich in den kommenden Artikeln trennscharf mit den beschriebenen kriminellen Phänomenen und ihren Auswirkungen auseinandersetzen, um das Themenspektrum differenziert beleuchten zu können. Dabei müssen im Kontext mafiöser Strukturen auch die Themen Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte behandelt werden: Das entspricht den Leitgedanken aus dem Innersten der Antimafia-Bewegung.

Mafianeindanke beschäftigt sich mit diesem Thema, da es nicht nur wenig behandelt wird, sondern insbesondere für das deutsche Zielpublikum des Vereins hohe Relevanz besitzt. Die emotionale Verbindung der Deutschen zum italienischen dolce vita ist äußerst hoch und die Qualität der Küche wohlbekannt. Wir alle haben wahrscheinlich schon italienische Lebensmittel gekauft und dabei mangels besseren Wissens die Annahme getroffen, die der italienische Journalist Giulio Rubino treffend beschreibt: „Es ist schließlich ein italienisches Produkt, also wird es schon gut sein“. In diesem und weiteren Folgetexten setzen wir uns zum Ziel, das immense Potential für Profite entlang der landwirtschaftlichen Wertschöpfungskette für die Organisierte Kriminalität zu verdeutlichen.
Lebensmittelbetrug in Italien: Mafianeindanke wird sich in der Artikelserie im Newsletter ausschließlich auf Produkte konzentrieren, die von der Seite der Konsumierenden als klassisch „Made in Italy“ verstanden werden und bei denen Konsumierende auch die italienische Herkunft bevorzugen, falls es ähnliche Produkte auch aus anderen Ländern gibt. Zudem müssen sich die Produkte besonders gut für Fälschungen eignen, was beispielsweise bei einem der wichtigsten Exportgüter, der Pasta, weniger der Fall ist. Produktkategorien, denen wir hingegen mehr Aufmerksamkeit widmen werden, sind beispielsweise Olivenöl, insbesondere extra natives Olivenöl („extra vergine“) sowie Büffelmozzarella.
Caporalato/Subventionsbetrug: ein weiterer Fokus wird auf der kriminellen Ausbeutung von günstigen bzw. irregulären Arbeitskräften liegen, dem bereits oben erwähnten Caporalato, mit seinen Ursachen sowie sozialen und ökologischen Auswirkungen. Ein weiterer Fixpunkt unserer Artikelreihe wird die kriminelle Abzweigung bzw. Veruntreuung von EU-Subventionen und staatlichen Unterstützungsleistungen sein, was ein daueraktuelles Thema darstellt.
Falls Sie Anregungen und Informationen zum Thema haben, kontaktieren Sie uns gerne.

Empfehlungen

Zum Weiterlesen empfehlen wir einen Blick in die Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung “Der Kampf der Landarbeiter*innen in Italien” (2020).

Ein spannendes Buch zum Thema Zwangsarbeit in Süditalien heißt “Bittere Orangen: Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa” und stammt aus der Feder des Kulturanthropologen Gilles Reckinger.

Am 19. Februar 2021 erscheint in Deutschland das Sachbuch “Agromafia: Wie Ndrangheta & Co. die italienische Lebensmittelproduktion beherrschen – und was auf unsere Teller kommt” des SZ-Korrespondenten Oliver Meiler.

Weiterführende Links zum Thema aus dem italienischen Sprachraum

https://www.osservatorioagromafie.it/https://eurispes.eu/ricerca-rapporto/agromafie-6-rapporto-sui-crimini-agroalimentari-in-italia-2019/https://lavialibera.libera.it/it-tag-10-caporalato

Buchempfehlungen zum Thema Caporalato (Italienisch)

Caporalato. An authentic agromafia di Fiammetta Fanizza, Marco Omizzolo

La lotta al caporalato in Italia di Maria Teresa Falsone

Ghetto Italia. I braccianti stranieri tra capolarato e sfruttamento di Leonardo Palmisano, Yvan Sagnet

Sotto padrone. Uomini, donne e caporali nell’agromafia italiana di Marco Omizzolo

Il grande carrello: Chi decide cosa mangiamo di Fabio Ciconte, Stefano Liberti

Uomini e caporali, di Alessandro Leogrande

Romanzo caporale di Annibale Gagliani, Stefano Donno

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@dilettabellotti

Die Artikelreihe von mafianeindanke zum Thema „Agromafie – Organisierte Kriminalität und Landwirtschaft“: