Made in Italy = Made of Blood?

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Interview mit Diletta Bellotti über ihren Kampf gegen die Ausbeutung der Saisonarbeiter:innen in der italienischen Landwirtschaft

mafianeindanke: Du hast International Migration and Human Rights in Brüssel studiert und bist seit zwei Jahren prominente Aktivistin für die Sichtbarkeit der Probleme und Kämpfe von Schwarzarbeitern in der italienischen Landwirtschaft. Dein Instagram-Account hat knapp 25.000 Abonnent*innen. Dort zeigst Du Bilder von performativen Protestaktionen, in denen Du Dich auf öffentlichen Plätzen mit Tomaten und anderen blutig wirkenden heimischen Früchten einschmierst. Dein Slogan lautet “Made in Italy is Made of Blood”. Geht es um Leben und Tod?

Diletta Bellotti: Für die Mehrheit der Arbeitnehmenden und unter vielen Umständen: Ja. Nicht nur im italienischen, sondern auch im europäischen Kontext ist es wichtig zu verstehen, dass die internationale organisierte Kriminalität unsere Landwirtschaft infiltriert hat. In Italien nennt man das mafiöse Business der Anwerbung landwirtschaftlicher Schwarzarbeiter “Caporalato”. Es zwingt die Landarbeiterinnen und Landarbeiter in ein komplexes System von Ausbeutungsverhältnissen. Für die in diesem mafiösen System beschäftigten Menschen geht es um Leben und Tod in dem Sinne, dass sie oft durch Erschöpfung zusammenbrechen, missbraucht, gequält und sogar getötet werden. In Italien leben mehr als 100.000 von ihnen wie Sklaven in Slums oder Zeltlagern und haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, während sie täglich im Durchschnitt 11 Stunden arbeiten, teilweise bei 40 Grad unter der brennenden Sonne. Zweitens geht es insofern um Leben und Tod, als die Landarbeiterinnen und Landarbeiter weltweit unsere Ernährungssysteme (wie auch unsere Wirtschaftssysteme) am Leben erhalten, da diese auf billige Arbeitskräfte angewiesen sind. Dabei handelt es sich um von der Gesellschaft ausgestoßene Menschen, etwa Geflüchtete, die bereit sind, miserable Lebens- und Arbeitsbedingungen hinzunehmen, nur um zu überleben. In anderen Worten: Diese Realität betrifft Arbeitnehmende in der Landwirtschaft weltweit und wird durch schwache Institutionen, neoliberale Systeme und die Präsenz der Mafia gestärkt. 

Du hast Dir den Prozess vor Ort selbst angeschaut und in einem Slum in der italienischen Region Apulien gelebt. Wie sieht der Alltag der Schwarzarbeiter*innen in der italienischen Landwirtschaft aus? Woher kommen sie und wie landen sie in dieser prekären Situation?

Im Juni 2009 habe ich einen Monat in der informellen Siedlung Borgo Mezzanone, einem Elendsviertel in der italienischen Region Apulien, verbracht. Dort leben ca. 3000 Landarbeiter unter prekärsten Bedingungen, ohne Zugang zu Trinkwasser und die grundlegende sanitäre Ausstattung. Es gibt keine Obergrenze in der Belegung dieses Slums: Je nach Jahreszeit füllt sich das Gelände, da die meisten Arbeiter saisonal eingestellt werden. In diesem spezifischen Slum stammen die meisten Männer aus Subsahara-Afrika. Zumeist werden die Slums von den illegalen Arbeitsvermittlungen streng nach Ethnien unterteilt, um Sprachbarrieren zu vermeiden und die Organisation der Arbeit zu erleichtern. Die Männer können aus diesem Grauen nicht ausbrechen: Erstens kämpfen sie ums Überleben, zweitens würden sie andernorts nicht besser bezahlt oder behandelt werden, da ausbeutungsfreie Betriebe kaum konkurrenzfähig sind. 

Wie reagieren Italiener*innen darauf, wenn sie mit Deinen Aktionen konfrontiert werden? Wie finden sie es, dass ihre heiligen Lebensmittel zu politischen Zwecken auf der Straße zermatscht werden?

In dem Jahr, als ich in ganz Italien mit dem Crowdfunding für meine Protestaktionen begonnen habe, bekam ich die verschiedensten Reaktionen auf meine ersten Performances. Die meisten Menschen verstanden überhaupt nicht, was ich da tat. Mitten im heißen italienischen Sommer stellt sich ein Mädchen mitten auf eine öffentliche, touristische Piazza, und zermatscht frisches Obst und Gemüse mit Blut, das auf eine italienische Flagge tropft, die sie selbst am Körper trägt. Diese erste Aktion begann ich allein, im Juni 2019 in Venedig, doch je mehr Menschen sich mir anschließen, desto weniger kann die Öffentlichkeit die Kraft unserer Symbole ignorieren. Selbst wenn man nicht weiß, wie Ausbeutungssysteme funktionieren, muss man doch Unbehagen spüren, wenn sich Lebensmittel und Blut auf der italienischen Flagge vermischen. 

Du bist seit einigen Jahren Volontärin der größten italienische Antimafia-Organisation “Libera” und hast in Projekten gearbeitet, in denen von der Mafia konfiszierte Ländereien für soziale oder ökologische Zwecke neu genutzt werden. Wie funktioniert das sogenannte “Gangmaster System” (Caporalato) und wie hängt es mit der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zusammen?

Das Gangmaster-System beruht, wie alle mafiösen Systeme, auf einem institutionellen Vakuum. Es bezeichnet ein illegales Vermittlungssystem von Arbeitskräften. Die sogenannten “Caporali” erhalten illegal Löhne, um die Arbeit der Landarbeiter zu koordinieren und organisieren. Diese Strukturen finden sich in Italien nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch im Bauwesen, in der Logistik, oder in Lebensmittel-Lieferservices wie “Uber Eats” wider. Die “Caporali” missbrauchen häufig ihre Machtposition und erschaffen gemeinsam mit den Arbeitgebern moderne Formen der Sklaverei. Aus dieser grausamen Realität können wir etwas Wesentliches lernen: Die Übeltäter hinter dieser Ausbeutung sind neben der Abwesenheit staatlicher oder gesellschaftlicher Kontrollen und der damit verbundenen strukturellen Gewalt besonders auch die neoliberalen Praxen moderner Lieferketten im Großhandel. Um Ausbeutung zu bekämpfen, reicht es also nicht, Mafiosi hinter Gitter zu stecken – im Gegenteil, das wäre sehr kurzfristig gedacht. Wir müssen unsere Nahrungsmittelketten nachhaltig reformieren.

Vor Kurzem wurde eine EU-Agrarreform unserer Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner durchgesetzt, die vor allem für ihr “Greenwashing” kritisiert wurde. Auch angesichts des Land Grabbing durch ausländische Agrargesellschaften in Ostdeutschland und der Skandale um Tierhaltung und Arbeitsbedingungen für Migrant*innen in der deutschen Fleischindustrie wird die Frage nach der Zukunft der Landwirtschaft immer dringlicher. Hast Du eine Vision für die nächste EU-weite Gesetzgebung?

Wie die Mehrheit der Menschen, die in diesem Feld arbeiten, bin ich von der GAP-Reform zutiefst desillusioniert worden. Letztendlich ist es wohl ein Weckruf angesichts der Tatsache, dass die Interessen, die hinter den Ausbeutungssystemen des Landes und der Menschen stehen, zu tief im modernen Staat verankert sind, als dass man sie einfach so ändern könnte. Es ist zwingend notwendig, dass wir als europäische Bürgerinnen und Bürger handeln und Klima- wie soziale Gerechtigkeit bei den nationalen und europäischen Institutionen einfordern. Wenn sie nicht darauf reagieren, ist es an der Zeit, uns anders zu organisieren. 

Wie hat die Pandemie Deine Arbeit als Straßenaktivistin beeinflusst? Welche Möglichkeiten stehen Dir jetzt zur Verfügung, weiterhin zu sensibilisieren?

Seit Beginn der globalen Pandemie war ich privilegiert genug, meine Ersparnisse dafür zu nutzen, mafiöse Strukturen in der Landwirtschaft und die Auswirkungen von Covid-19 auf Arbeiterrechte zu nutzen. Ich konnte durch eine Fundraising-Kampagne 10.000 Euro sammeln, um NGOs in Italien zu unterstützen, die Migrant*innen während der Krise unter die Arme greifen. In diesem Zusammenhang habe ich auch Streiks der “Black Lives Matter”-Bewegung in Italien mitorganisiert. Mehr als je zuvor müssen wir jetzt zusammenarbeiten, Fähigkeiten und Kontakte austauschen und solidarische Netzwerke bilden. Das gilt für Aktivist*innen weltweit. Die Arbeit von Vereinen wie mafianeindanke sollte jetzt besonders gefördert werden. Dieser Moment kann exzellent dazu genutzt werden, unsere eigenen Privilegien und die Fundamente unserer Gesellschaften kritisch zu reflektieren, um sichtbar zu machen, wie sehr die Schlupflöcher in unseren Institutionen mafiöse Strukturen stärken.

Das Interview wurde im November 2020 geführt. Inzwischen arbeitet Diletta Bellotti als Junior Researcher im “Osservatorio Agromafie” in Rom. 

Die Artikelreihe von mafianeindanke zum Thema „Agromafie – Organisierte Kriminalität und Landwirtschaft“: