Agromafia – ein deutsches Problem?

Oliver Meiler

Oliver Meiler ist Italienkorrespondent der Süddeutschen Zeitung, lebt in Rom und berichtet regelmäßig über italienische Organisierte Kriminalität und ihre Verbindungen nach Deutschland. Im Februar ist sein Buch „Agromafia: Wie Ndrangheta & Co. die italienische Lebensmittelproduktion beherrschen – und was auf unsere Teller kommt“ (dtv Verlagsgesellschaft, 20 Euro) erschienen. Wir haben uns mit ihm über die Verbrechen der Agromafia unterhalten – und inwiefern wir in Deutschland davon betroffen sind.

Wie entstand die Idee, gerade jetzt ein Sachbuch zum Thema „Agromafia“ für ein deutsches Publikum zu schreiben?

„Gerade jetzt“, wie Sie sagen, ist ein elastischer Begriff: Mit der Recherche habe ich vor etwa drei Jahren begonnen, zunächst für ein so genanntes Buch Zwei in der Süddeutschen Zeitung, das ist ein langes Format am Wochenende, drei Zeitungsseiten. Ich habe mich darin vor allem auf die Mozzarella di bufala aus dem Casertano konzentriert. Darauf kontaktierte mich dtv und bat mich, daraus ein Buch zu machen. Doch die Thematik interessiert mich schon viel länger, eigentlich seit es diesen Jahresbericht von Coldiretti und dem Observatorium von Gian Carlo Caselli gibt, also seit etwa zehn Jahre. In diesen zehn Jahren, die ja fast durchwegs Jahre der Wirtschaftskrise waren, wuchs dieser Geschäftszweig der Mafia antizyklisch und dazu massiv. Auch kriminalsoziologisch war das ein interessantes Feld: Die Mafia kommt ja ursprünglich vom Land. Das Phänomen hat also tiefe Wurzeln, so richtig groß wurde es aber in der vergangenen Dekade. Und da die Deutschen, die Schweizer und die Österreicher italienisches Essen lieben, dachte ich, könnte sie interessieren, wie die Mafia sich da still zu uns an den Tisch setzt, in der einen oder anderen Form.

Wenn man sich die gesamte „Seidenstraße“ der agromafiös infiltrierten Lieferketten eines Produkts anschaut, etwa den Weg einer apulischen Tomate nach Deutschland verfolgt, an welchen Stationen machen die kriminellen Organisationen den größten Profit? 

Ich habe mir die Tomate aus dem sizilianischen Pachino genauer angeschaut, weil man da gut nachzeichnen kann, wie die Mafia operiert. Wichtig ist zunächst, dass sie an allen Stationen verdient, bei jedem Schritt. Oft gehört ihr der Acker, auf dem die Tomate angebaut wird, dazu die Firma, die sie erntet, also die Marke, manchmal auch das Geschäft mit den Düngemitteln, mit den Holzpaletten für den Transport, den Plastikkörben für die Früchte und das Gemüse. Auch der Transport durch das ganze Land ist in der Hand der Mafia, von einem Großmarkt zum anderen, von Pachino nach Vittoria und weiter nach Fondi und Mailand. Sie besaß immer schon Transportfirmen und ganze Lastwagenflotten. Besonders zentral ist aber natürlich ihre Vormachtstellung in den Großmärkten, nicht nur im Süden Italiens: Dort bestimmen sie die Preise und damit auch die eigene Gewinnmarge.

Die Debatte um Agromafias nimmt häufig das „Caporalato“, die illegale Vermittlung von Arbeitskräften, in den Fokus. Finden Sie das problematisch?

Nein, problematisch finde ich das nicht, denn das Caporalato kann gar nicht genügend stark im Fokus stehen. Aber ja, Sie haben recht: Das Phänomen der Agromafia ist viel breiter. Und beim Caporalato geht es nicht nur um Mafia, sondern im weiteren Sinn um die Ausnützung von Menschen, um die Missachtung ihrer Rechte, der Arbeitsrechte vorab. Und da es sich in den meisten und den krassesten Fällen um papierlose Zuwanderer aus Afrika handelt, tangiert das Thema auch die Immigrationspolitik, die Regularisierung von sogenannten „clandestini“. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die italienische Regierung im vergangenen Jahr versucht hat, in einer große Legalisierungskampagne möglichst viele Erntehelfer aus der Illegalität zu befreien. Gewollt hat sie die damalige Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova, die in jungen Jahren selbst auch auf Plantagen gearbeitet hatte. Die Kampagne war ein Flop, nur wenige Erntehelfer sind aufgetaucht: Es hätte dafür ja auch Arbeitgeber gebraucht, die ihnen eine echte, feste Anstellung zugesichert hätten. Das passierte nur in sehr seltenen Fällen.

Ist das Caporalato überhaupt ein mafiöses Phänomen im engen/strengen Sinn?

Auf jeden Fall ist es ein mafiöses System, die Kultur dahinter ist mafiös, es wurde von der Mafia eingeführt: In ihren Anfängen waren die Mafiosi die Caporali, sie rekrutierten billige Arbeitskräfte für Großgrundbesitzer, in deren Dienst sie standen – je billiger, desto besser. Das war ihr Job. Mit Gewalt ging natürlich alles viel einfacher. Doch ist es bis heute ein mafiöses Phänomen? Die Clans, die selbst mit Gemüse und Früchten handeln, haben die Anwerbung von schlecht bezahlten Helfern natürlich längst ausgelagert. Die Caporali sind heute meistens Männer, die aus denselben Ländern kommen wie die Erntehelfer. Und da auch große Landwirtschaftsbetriebe aus der Oberwelt mit braccianti arbeiten, ist es nicht nur ein mafiöses Phänomen.

Warum ist es so schwierig, die Dimension der Problematik für den deutschen Markt und deutsche Konsument*innen herauszuarbeiten?  

Ist es das tatsächlich? Mein Buch erzählt, was die Agromafia ist, wo sie herkommt, womit sie Geld verdient. Im besten Fall sensibilisiert es auch im Ausland für ein Phänomen, das, wie Sie sagen, außerhalb Italiens noch ein Nischenthema ist – ich würde sogar sagen: völlig unbekannt. Wie immer, wenn es um Unterwelt und Schattenwirtschaft geht, ist es unmöglich, genaue Zahlen zu nennen, um es noch greif- und zählbarer zu machen. Die Mafia arbeitet mit Strohfirmen, fliegt in Italien mal eine Marke auf, wird sie aus dem Sortiment genommen. Das merken die Konsument*innen in Deutschland dann meistens gar nicht. Aber wie viele fliegen auf? Die Deutschen lieben italienische Lebensmittel, sie sind die größten Importeure davon in der Welt: für fünf Milliarden Euro im Jahr. Da sollte sie schon interessieren, wer – neben den vielen tollen und rechtschaffenen Herstellern – auch noch dahinterstehen kann.

Glauben Sie, die Pandemie hat den mafiösen Strukturen im landwirtschaftlichen und im Lebensmittelsektor zusätzlich in die Hände gespielt?  

Das wird man wohl erst in ein paar Jahren sehen, doch ich fürchte: ja. Jede Krise hilft der Mafia, das wissen wir mittlerweile. Alle schauen weg. Und wenn dann die Banken und der Staat keine Kredite und keine Zuschüsse leisten können oder wollen, fallen viele Betriebe in die Hände der Wucherer und der Clans mit ihrem vielen Schwarzgeld. Besonders gefährdet sind Bars und Restaurants. In der Landwirtschaft kann man hoffen, dass sie diesmal einigermaßen verschont bleibt: In der Pandemie erlitt die Lieferkette nie einen Unterbruch, die Supermärkte wurden satt beliefert, die Betriebe konnten ihr Geschäft also halten. Auch der Export der gefeierten Produkte, der Exzellenzen der italienischen Lebensmittelproduktion, brach nicht ein.

Welche ersten Schritte müssten jetzt eingeleitet werden, damit die deutsche Politik proaktiver Verbraucher schützen kann? 

Es würde schon einmal helfen, wenn die deutsche Politik die Mafia nicht mehr unterschätzen würde. Im Gegensatz zu den Ermittlern tut sie das nämlich bis heute, obschon man spätestens seit Duisburg weiß, dass die Mafia, besonders die ‘Ndrangheta, den deutschen Markt liebt. Ist das Bewusstsein dann mal geschärft, wäre es vor allem wichtig, dass die großen Supermarktketten in die Pflicht genommen würden. Sie sollten für die legale Herkunft ihrer Produkte garantieren können, und dafür müssten sie natürlich genau prüfen, wem sie die Ware abkaufen. Ideal wäre ein Siegel, eine Zertifizierung wie Fair Trade: garantiert mafiafrei. Aber wahrscheinlich ist das utopisch.

Die Artikelreihe von mafianeindanke zum Thema „Agromafie – Organisierte Kriminalität und Landwirtschaft“: