Weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt erging am 29.10.2021 am Amtsgericht Konstanz ein Urteil von unschätzbarem Wert für die Bekämpfung von Mafia-Organisationen in Deutschland. Was wir daraus lernen können. Das vollständige Urteil kann am Ende dieses Artikels eingesehen werden.
In dem Urteil wird der Angeklagte S.G. wegen „unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge; wegen Geldwäsche in 8 Fällen jeweils in Tateinheit mit Unterstützung einer ausländischen kriminellen Vereinigung“ und „wegen Geldwäsche in Tateinheit mit Unterstützung einer ausländischen kriminellen Vereinigung“ zu insgesamt drei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. So weit, so unspektakulär – die Besonderheit steckt in der Urteilsbegründung: Diese enthält eine genau Beschreibung der ‘ndrangheta-Strukturen, in denen S.G. agierte; laut Medienberichten vom Februar 2023[1] ist es das erste Mal überhaupt, dass die kalabrische Mafia in einem Urteil beim Namen genannt wird.
In der Urteilsbegründung werden der komplette Werdegang von S.G. sowie seine Position und seine Verbindungen innerhalb der ‘ndrangheta aufgeschlüsselt. Konsequenz: Wer das Urteil liest, sieht keinen isolierten Drogendeal mehr, sondern erkennt den Mann als Teil eines größeren, kriminellen Systems. Ein System, das gezielt die Schwachstellen bei der Erkennung und Bekämpfung von Mafia-Organisationen ausnutzt. Beim Lesen kommt ein mulmiges Gefühl auf: Wie viele andere Verbrechen ließen sich entdecken, wenn man den im Urteil erwähnten Komplizen nachgehen würde?
Interessant an der Geschichte von S.G. ist auch, dass diese einige typische Mafia-Merkmale auf sich vereint – es handelt sich sozusagen um einen Bilderbuch-Mafioso. Wer verstehen will, wie Mafia-Organisationen, insbesondere die ‘ndrangheta, in Deutschland heutzutage funktionieren, merkt sich folgende Charakteristiken:
1. Abstimmung mit der Herkunftsregion in Italien
Eines sei vorausgeschickt: Nicht jede Person aus Kalabrien ist ein Mafioso, und nicht jeder Mafioso kommt aus Kalabrien. Man sollte allerdings präsent haben, dass die ‘ndrangheta aus Kalabrien kommt und auf Familienstrukturen aufbaut. Auch bei Gruppen der ‘ndrangheta in Deutschland bestehen enge Verbindungen in die Heimat, es werden gemeinsam Geschäfte organisiert oder Entscheidungen besprochen. So auch in diesem Fall: S.G. ist selbst in Kalabrien aufgewachsen, er kommt im Alter von sechzehn Jahren nach Deutschland. Den geplanten Drogendeal, für den er verurteilt wurde, organisiert er gemeinsam mit Mitgliedern des Locale San Luca, dazu ist er regelmäßig in Kontakt mit weiteren mutmaßlichen ‘ndranghetisti des Clans „G. alias B.“. Das Kokain, das mithilfe dieses Clans durch Deutschland transportiert wird, ist größtenteils für Italien bestimmt.
Wichtig ist: Aus Italien kommen nicht nur Mafiosi, sondern auch engagierte Leute, die sich den Organisationen entgegenstellen. Das beste Gegenbeispiel dafür ist mafianeindanke selbst – es waren italienische Eingewanderte, die die Initiative gegründet und damit die zivilgesellschaftliche italienische Antimafia-Bewegung nach Deutschland exportiert haben. Genauso italienisch wie die Mafia ist auch die Antimafia.
2. Kokain
Kokain ist eines der Hauptgeschäftsfelder der ‘ndrangheta, weil in dieser „Branche“ unvorstellbar hohe Profite möglich sind. Die kalabrische Mafia ist bestens mit kriminellen Organisationen in Lateinamerika vernetzt und agiert als Broker. Mitglieder der ‘ndrangheta wird man kaum als Dealer an der Straßenecke antreffen – auch in diesem Fall besteht der Verdacht, dass eine weitere Person „im Auftrag von S. G. (73) [nicht der Angeklagte, Anm. d. Red.] Kleinabnehmer in Ü. mit Kokain versorge“. Doch als Mittelsmänner sind die ‘ndranghetisti für den internationalen Kokainhandel nahezu unumgänglich. Dabei arbeiten sie auch mit kriminellen Organisationen aus anderen Ländern zusammen.
Bezeichnend ist auch, dass in dem Urteil immer wieder Hamburg und andere Hafenstädte genannt werden: „[Das Kokain] wurde von Südamerika mit Containerschiffen unter anderem nach Rotterdam und Amsterdam (Niederlande), Antwerpen (Belgien), Gioia Tauro (Italien) und Hamburg (Deutschland) geliefert.“ Vor allem Rotterdam, Antwerpen und Hamburg sind als wichtige Einfallstore für Kokain nach Europa bekannt, wobei die Rolle Hamburgs immer wichtiger wird (mafianeindanke berichtete). Im Urteil findet sich auch der Hinweis auf eine Überwachungsaufnahme, bei der eine Bestellung von 100 Kilogramm Kokain aus Südamerika aufgezeichnet wurde: „Das Kokain sollte über den Hafen Hamburg nach Europa gebracht werden.“
3. Transnationale Verbindungen
Der Bodensee ist nicht der einzige Schauplatz in dem Urteil. Ganz im Gegenteil, die Urteilsbegründung nimmt einen mit auf eine Reise um die Welt: S.G. kommt von Kalabrien nach Erfurt, wo er im Restaurant eines Bekannten seines Vaters arbeitet, und landet schließlich in der Kleinstadt Ü. am Bodensee. S.G. reist mehrfach für Verhandlungen zur Kokainbeschaffung in die Niederlande: „In diesem Zusammenhang machte die Gruppierung unter anderem im Zeitraum zwischen Oktober 2018 und Februar 2019 in Rotterdam und Amsterdam in den Niederlanden ein Rauschgiftgeschäft über die Lieferung von mindestens 62 Kilogramm Kokain“. Oder auch: „Am 15.04.2018 seien S. G. (73) [nicht der Angeklagte, Anm. d. Red.] und M. T. mit zwei weiteren Personen für 24 Stunden nach Holland gefahren.“ Natürlich geht es auch immer wieder um Südamerika, beispielsweise beim Zeugen G.T., der “bis ins Jahr 2015 als internationaler Drogenhändler Kokain von Südamerika nach Europa geschmuggelt” habe. Auch in Stuttgart kommt es zu Treffen „zur Vorbereitung/Abwicklung von Drogengeschäften“. Im Oktober 2018 fliegt S.G. für vier Tage nach Rumänien – hier besteht eine Kooperation mit einer kriminellen Gruppierung, mit der gemeinsam kriminelle Geschäfte geplant werden: „Aus dem überwachten Gespräch habe sich ergeben, dass die rumänische Gruppierung um A. A., R. D. und V. P. Kontakte in die Betäubungsmittelszene von Kolumbien besitzen. Infolgedessen sei ein gemeinsamer Kauf von insgesamt 124 kg Kokain geplant worden.“
Die Verbrechen, um die es in dem Urteil geht, machen nicht an Landesgrenzen halt, genauso wenig wie die kriminellen Organisationen, die dahinterstecken. Genau deshalb ist die internationale Zusammenarbeit so wichtig – die der Strafverfolgungsbehörden beispielsweise in Form von Joint Investigation Teams. Ermittlungen von italienischen Behörden spielen auch in diesem Urteil immer wieder eine Rolle – den Kolleg:innen in Italien waren bereits Vorgänge im Umfeld des italienischen Restaurants, in dem S.G. angestellt war, bekannt. Auch auf politischer Ebene bedarf es internationaler Zusammenarbeit, um Gesetze zu schaffen, die nicht nur eine Verschiebung der kriminellen Phänomene von einem Land ins nächste bewirken, sondern der Organisierten Kriminalität mindestens auf EU-Ebene die Stirn bieten. Ganz zu schweigen von der Vernetzung von Wissenschaft und Zivilgesellschaft, um Wissen zu teilen und die zivilgesellschaftliche Antimafia voranzutreiben.
4. Unerklärlich große Mengen Bargeld
Deutschland als Geldwäscheparadies, in diesem Zusammenhang geht es immer wieder um Bargeld. Ist dieser Zusammenhang in Zeiten von Krypto & Co. wirklich noch gerechtfertigt? Das Urteil zeigt: ja. Würden in Deutschland strengere Vorschriften für den Umgang mit Bargeld herrschen, hätten sich so manche absurden Szenen nicht abspielen können. Ein paar Beispiele:
- S.G. zahlte zwischen Januar 2017 und Mai 2021 über 120.000 € Bargeld auf seine Konten bei der Sparkasse Bodensee ein. Das entspricht knapp 30.000€ im Jahr – und das als Kellner mit einem Monatseinkommen von rund 1.300€.
- Die Bargeldeinzahlungen sind unregelmäßig und es gibt hohe Ausreißer: So bringt S.G. im Mai, Juni, Juli und September 2019 jeweils mindestens 1300€ Bargeld zur Bank. Im November 2019 steht er auf einmal mit 20.000€ Cash auf der Matte. Die Bank nimmt das Geld an.
- Das vorhandene Vermögen und dessen angebliche Quellen passen nicht zusammen: Von 2016 bis Ende 2019 erhielt S.G. einen Gesamtbruttoarbeitslohn von rund 60.000 €, doch auf seinen beiden Konten (bei ein und derselben Bank) fanden von 2017 bis 2020 Bareinzahlungen in Höhe fast 190.000€ statt. Im Urteil heißt es: „Entgegen der Ansicht der Verteidigung kann „der Fehlbetrag“ von über 130.000 € auch nicht mit dem Bezug von Trinkgeldern erklärt werden.”
Durch Finanzermittlungen stößt die Kriminalpolizei auf Ungereimtheiten, wie es im Urteil heißt: “Hierbei seien ihnen hohe Bargeldeinzahlungen aufgefallen, welche sofort nach Eingang auf dem Konto weiter transferiert worden seien. Die eingezahlten Gelder hätten gerade zur Überweisung der anfallenden Ausgaben ausgereicht. In diesem Zusammenhang sei besonders markant gewesen, dass die Summe der in bar auf die beiden Konten eingezahlten Gelder nicht mit den vom Angeklagten gegenüber dem Finanzamt erklärten Einkünften in Einklang gebracht werden konnten. Der Angeklagte habe für seine Tätigkeit im Restaurant „P“ Arbeitslohn (in bar) bezogen und über die Wintermonate Leistungen nach dem ALG I. Andere Vermögenswerte wie Grundbesitz bzw. andere Einkünfte habe er nicht feststellen können. Das gelte, so der Zeuge OAR G. E. auch für Italien. Dort besitze er weder Grundvermögen noch sei er steuerlich erfasst. Dementsprechend sei die hohe Summe an Bargeldeinzahlungen nicht nachvollziehbar.”
Nun ist S.G. wegen Geldwäsche verurteilt worden, aber solange die Kontrollen in Deutschland so oberflächlich bleiben, wird es sich für Mafiosi weiterhin lohnen, schmutzige Gelder zu uns zu bringen. Schließlich ist die Wahrscheinlichkeit hoch, nicht erwischt zu werden – und die Unmengen Bargeld aus dem Drogenhandel müssen ja irgendwohin, wie auch eine Anekdote aus dem Urteil unterstreicht: „Aus den Überwachungsmaßnahmen sei insoweit bekannt, dass die Gelder in bar nach Italien gebracht und dort auf dem landwirtschaftlichen Anwesen vergraben worden seien.” Abgesehen von all dem ist auch extrem ärgerlich, dass der deutsche Staat hier mit Sozialleistungen die Mafia unterstützt hat.
5. Unternehmen im Bereich Gastro & Lebensmittelhandel als Tarnung
Die legalen Geschäftsbereiche, die in dem Urteil erwähnt werden, sind als typische Tarnungen für mafiöse Aktivitäten bekannt. Es geht vor allem um die Gastronomie – S.G. war selbst als Kellner angestellt – sowie um Lebensmittelgroßhandel bzw. Import/Export-Firmen: “Zum 01.09.2015 habe der Angeklagte zwar einen Lebensmittelgroßhandel, Import und Export von Lebensmitteln und Wein, in der S. Straße angemeldet; diesen jedoch – ohne jemals einen Umsatz getätigt zu haben – zum 31.12.2016 wieder abgemeldet.”
Das Urteil widmet dem Thema „Steuerhinterziehung und Betrugsstraftaten“ ein eigenes Unterkapitel, in dem es zuerst auf die Restaurants P. in Ü. und B.-B. sowie D.V. in R. eingeht und dann auf Straftaten im Zusammenhang mit der Führung von Lebensmittelgeschäften. Zur Steuerhinterziehung heißt es „Steuererklärungen seien nur wenige abgegeben worden. Dementsprechend sei der Angeklagte in seiner Zeit als Geschäftsführer der GSG UG seinen steuerlichen Verpflichtungen in keinster Weise nachgekommen. […] Neben den „formalen Mängel“ [sic] hätte die Überprüfung durch die Finanzbehörden ergeben, dass ca. 25% bis 30% der erzielten Umsätze nicht dem Finanzamt gemeldet worden seien. Die Verantwortlichen hätten einen Teil der vereinnahmten Umsätze nicht ordnungsgemäß im Kassensystem erfasst und auf diese Art und Weise „schwarz“ vereinnahmt. Die Finanzverwaltung gehe in den Jahren 2016 bis 2020 von einem jeweiligen Mehrumsatz (pro Jahr) in Höhe ca. von 250.000 EUR aus. Dementsprechend sei nicht nur zu wenig Umsatzsteuer, sondern auch Einkommensteuer und Gewerbesteuer bezahlt worden.“
Im Lebensmittelhandel sind Mitglieder der Gruppe teils seit Jahren aktiv, Unternehmen werden gegründet, wechseln Besitzer, stellen den Betrieb ein oder gehen Konkurs, andere sind aktiv, ohne je angemeldet zu werden. Hierbei setzt die Gruppierung gezielt Strohleute ein, die nur auf dem Papier eine Rolle im jeweiligen Unternehmen spielen. Dabei gehen sie unverblümt vor: Über einen Strohmann heißt es, er habe sich „zu keinem Zeitpunkt in Deutschland aufgehalten“, stattdessen habe sich ein Vertrauter am Telefon für ihn ausgegeben. Dahinter steckt Kalkül, erklärt das Urteil, und weist darauf hin, dass teils Warenlieferungen nicht bezahlt worden seien: „Die Forderungen zivilrechtlich einzuklagen sei nicht gelungen bzw. habe keinen Sinn gemacht, da sich zum einen die „Strohleute“ in Italien befunden haben bzw. diese schlussendlich einen Insolvenzantrag gestellt hätten.“ Auch zu Versicherungsbetrug sei es gekommen. Strohleute, Steuerhinterziehung, Versicherungsbetrug – mehr rote Flaggen für Finanzkriminalität durch Mafia-Organisationen sind kaum möglich.
Besonders interessant ist auch, wie das Gericht im Urteil von den Strukturen in den Restaurants auf die Strukturen in der kriminellen Organisation Rückschlüsse zieht: “Sobald ein formeller Inhaber finanzielle Schwierigkeiten habe, fände ein Betreiberwechsel und zwar ohne jegliche Gegenleistung statt. Dies mache wirtschaftlich nur dann Sinn, wenn es in der „Familie“ bleibe. Auch fänden Positionswechsel zwischen Angestelltenverhältnis und Inhaber statt.” – “So hat der Angeklagte zunächst als Kellner im Restaurant P. in Ü. gearbeitet, bevor er über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg die Position des Geschäftsführers innegehabt hat. Im Anschluss daran hat er wieder seine ursprüngliche Kellnertätigkeit aufgenommen. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass sich die Vergütung des Angeklagten über die ganzen Jahre hinweg sich auf dem gleichen Level bewegt hat. Hätte er tatsächlich das Restaurant P. geführt, hätte er eine entsprechende Vergütung – und kein „Kellnergehalt“ – bekommen.”
Und nun?
Der Fall von S.G. zeigt: Italienische Mafia-Organisationen sind in Deutschland zuhause, sie handeln hier mit Drogen und waschen ihre schmutzigen Gelder, sie besitzen Unternehmen und Restaurants, sie haben ein starkes Netzwerk innerhalb ihrer eigenen Organisation sowie Kontakte zu anderen kriminellen Gruppierungen. Über 1.000 Mafiosi sind dem BKA derzeit bekannt, die sich dauerhaft in Deutschland aufhalten. Es müssen noch viele Urteile geschrieben werden, um deren Geschäften auch nur ansatzweise auf den Grund zu gehen – aber mit diesem Präzedenzfall haben Gerichte in Deutschland ein Beispiel, an dem sie sich orientieren können: Bei Ermittlungen gegen mutmaßliche Mafiosi muss das System unter die Lupe genommen werden. Es wäre ein fataler Fehler, sich auf eine isolierte Person zu beschränken. Denn Mafia ist System, ein System der Ungerechtigkeit, das die Demokratie mit Füßen tritt und uns allen schadet.
Es gibt immerhin einen kleinen Hoffnungsschimmer: Derzeit müssen sich vor dem Duisburger Landgericht mehrere Männer verantworten, denen Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation vorgeworfen wird. Und es sieht so aus, als würden weitere Gerichtsverhandlungen folgen, in denen die Mitgliedschaft in ‘ndrangheta-Clans eine Rolle spielt. Ein Anfang ist also gemacht.
Eine unabhängige Beobachtungsstelle für Organisierte Kriminalität kann hierbei wichtige Arbeit leisten – sie sammelt und analysiert Daten, schafft so neues Wissen, berät Betroffene und schafft eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft & Zivilgesellschaft und Politik, Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften.
[1] “Gericht fällt erstmals Urteil zur ‘Ndrangheta“ vom 10.02.2023 auf tagesschau.de: https://www.tagesschau.de/investigativ/mdr/mafia-urteil-ndrangheta-101.html , zuletzt aufgerufen am 01.02.2024.