In diesem Jahr erinnern wir uns an einen wichtigen Jahrestag für die italienische Antimafia-Bewegung: den 30. Jahrestag der Bombenanschläge, die Giovanni Falcone, Francesca Morvillo, Paolo Borsellino und alle* Männer und Frauen, die sie begleitet haben, das Leben kosteten. Nach dem Tod der beiden Richter aus Palermo, die vor allem nach dem Maxiprozess 1986 zu Symbolen des Kampfes gegen die Cosa Nostra wurden, war die Reaktion der sizilianischen und italienischen Zivilgesellschaft sehr heftig. Aus den Protesten der frühen 1990er Jahre sind viele Antimafia-Bewegungen und -Organisationen wie Libera entstanden. In Italien kennt jeder die Richter Falcone und Borsellino – außerhalb Italiens ist das leider nur bedingt der Fall.
Aus diesem Grund engagieren sich Fiammetta Borsellino (Tochter des Richters Paolo Borsellino) und Alessandro Bellardita (deutsch-italienischer Richter und Autor des Buches “La fine delle mafie” [„Das Ende der Mafias“]) für eine bessere Wahrnehmung der Antimafiabewegung im Ausland. Mitte Oktober fanden in München mehrere Treffen mit den beiden statt, die von der Münchner Comites (https://comites-monaco.de/) gemeinsam mit dem Italienischen Kulturinstitut, dem Circolo Cento Fiori, dem Verein La Paranza e.V. und dem Institut für Italienische Philologie der LMU organisiert wurden. Die bayrische Gruppe von mafianeindanke hat die Initiative gerne unterstützt und sich aktiv an den Veranstaltungen beteiligt. Dieser Artikel soll das Gesagte wiedergeben und eine breitere Diskussion darüber eröffnen, was es bedeutet, heute in Deutschland “Antimafia-Erinnerungsarbeit” zu betreiben.
Im Jahr 2020 half mafianeindanke Maria Falcone, der Schwester des Richters, dabei, Materialien und Zeugenaussagen über die Bedeutung ihres Bruders für den Kampf gegen die Mafia in Deutschland zu sammeln. Ausgangspunkt war die von Maria Falcone angestrebte Klage gegen ein Frankfurter Restaurant, das sich „Falcone und Borsellino“ nannte und die Bilder der beiden Richter zusammen mit Einschusslöchern auf seiner Karte platzierte. Wie wir in diesem Artikel geschrieben haben, sind wir davon überzeugt, dass auch Deutschland “Antimafia-Helden” braucht: nicht so sehr, weil wir es für wünschenswert halten, dass jemand sich und sein Leben für diesen Zweck opfert (was wir aus den unten genannten Gründen eigentlich für falsch halten), sondern weil allgemein bekannte Symbolfiguren eine zentrale Rolle dabei spielen, das Bewusstsein für die Relevanz des Themas in der gesamten Gesellschaft zu verbreiten. Wir brauchen daher keine isolierten Helden, die ihre Arbeit tun, sondern die gesamte Zivilgesellschaft soll sich am Beispiel dieser “Helden” orientieren, um gegen die Mafia vorzugehen.
Eine Prämisse der Veranstaltungsreihe war der berühmte Satz von Falcone: “Die Mafia ist ein menschliches Phänomen und wie alle menschlichen Phänomene hat sie einen Anfang, eine Entwicklung und wird daher auch ein Ende haben”. Es kam jedoch die Frage auf, wie wir dieses ersehnte Ende erreichen können und ob es wirklich ein Ende der Mafias gibt. Auf diese Frage antwortete Fiammetta Borsellino, dass “man nicht Richter oder Polizist sein muss, um die Mafia zu bekämpfen; im Gegenteil, ohne eine Zivilgesellschaft, die bei der Suche nach der Wahrheit mitarbeitet, sind die Männer und Frauen der Institutionen nicht wirklich effektiv”. Außerdem stellte sie fest, dass “je mehr wir uns engagieren, desto erfolgreicher wird dieser Kampf sein. Aber es gibt keinen ‘Sieg‘, der so groß ist, dass er uns von unserem Streben nach einer „Kultur der Legalität“ abbringen würde. (Anm.: der Begriff „Kultur der Legalität“ ist in Italien sehr verbreitet und bezieht sich nicht nur auf die Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns, sondern auch auf die Beziehungen der Mitglieder der Gesellschaft untereinander.) Denn sobald unsere Wachsamkeit nachlässt, kehren die Mafiosi zurück und nutzen den fehlenden gesellschaftlichen und staatlichen Druck. an. Es ist kein Zufall, dass die Mafia heute in den Aktienmarkt investiert und das administrative und politische Gefüge infiltriert.“
Man fragt sich in der Tat: Wenn in Italien diese zivilgesellschaftlichen Organisationen nach den Anschlägen von Capaci und Via d’Amelio nicht entstanden wären, wenn die Angehörigen von Mafiaopfern sich nicht dafür eingesetzt hätten, diese Geschichten in Schulen und bei anderen Veranstaltungen zu erzählen, gäbe es in Italien dann heute, wo die Mafia auch dort weniger Aufsehen erregt, ein derartig geringes Problembewusstsein wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern?
Diese provokante Frage sollte einmal mehr die Rolle der Zivilgesellschaft und die Bedeutung eines offenen Gesprächs unterstreichen. In Fortsetzung dieser Argumentation fragten sich die Veranstaltungsteilnehmer: wenn diese Sensibilisierungsarbeit in Italien funktioniert, warum sollte man sich nicht davon inspirieren lassen, um hier in Deutschland ähnliche Arbeit zu leisten? Alessandro Bellardita und Fiammetta Borsellino haben mit den Jungen und Mädchen der Münchner Gymnasien darüber gesprochen.
Fiammetta Borsellino sagte, dass ihr Vater bewußt nicht im Fernsehen auftrat, sondern in Schulen. Denn er sei davon überzeugt gewesen, dass sich die Mafia vom Konsens der jungen Leute ernährt. “Ein Mafioso zu sein, bedeutet nicht nur, Teil einer kriminellen Organisation zu sein, sondern auch deren Kultur des Machtmissbrauchs und der Gewalt zu teilen und der Möglichkeit zu erliegen, schnell viel Geld zu verdienen. Wer mitdenkt und wem das Wohl anderer am Herzen liegt, wer sich für den Schutz öffentlicher und gemeinschaftlicher Räume einsetzt, der macht Antimafia-Politik”
Alessandro Bellardita sprach über Antimafia-Arbeit auf der Grundlage des Konzepts der Freiheit. Seiner Meinung nach wird nicht genug darüber gesprochen, was die Mafia mit unserem sozialen Gefüge anstellt, und mit einigen konkreten Beispielen ist es einfacher, den Menschen die Augen zu öffnen. Als ein Beispiel nannte er die unternehmerische Freiheit. Deren grundrechtlichen Schranken werden jeden Tag von der Mafia angegriffen, denn das größte Problem der Mafia sei das Waschen von Geld, und das ginge am einfachsten durch die Gründung von Unternehmen zu diesem Zweck. Mafia-Unternehmer hätten jedoch nicht die gleichen Finanzierungsprobleme wie normale Unternehmer, da sie über enormes Kapital verfügen. Sie konkurrierten am Markt zudem häufig auf unlautere Weise, indem sie z.B. Produkte zu niedrigeren Preisen als die Konkurrenz verkaufen können oder ihre Arbeitskräfte unterbezahlen würden. Ein weiteres Beispiel für die von Mafias bedrohte Freiheit seien die Rechte der Minderheiten in der Bevölkerung. Diese seien zwar durch die Verfassung geschützt, aber es sei kein Zufall, dass insbesondere Minderheiten in Italien unter den Aktivitäten der Mafia litten. Man denke nur an Migranten, die als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft ausgebeutet werden, wie auch mafianeindanke in diesem Artikel erklärt hat. Eine weitere von der Mafia angegriffene Freiheit sei die Pressefreiheit. Es sei kein Zufall, dass zu den Personengruppen, die am stärksten von Mafia-Gewalt betroffen sind, Journalisten gehören (zuletzt die Ermordung von Jan Kuciak und Peter de Vries in Europa). Wie Bellardita sagte: “Die Presse, die vierte Gewalt, spielt eine grundlegende Rolle bei der Sicherstellung der Pressefreiheit durch nicht-staatliche Institutionen. Wenn es keine Presse gäbe, müssten wir jeden Tag nach Berlin fahren, um zu erfahren, was im Bundestag diskutiert wird. Aber dafür haben wir nicht genug Zeit, daher sind dafür Journalisten ja da. Aber wenn Journalisten um ihr Leben fürchten, schreiben sie entweder nicht über die Mafia und andere unbequeme Themen, oder sie müssen unter Begleitschutz leben, wie es derzeit 12 italienische Journalisten tun.“
Es ist interessant, wie auch das Sprechen über das alltägliche Leben, über konkrete Beispiele, die die Interaktion zwischen Individuen und das Funktionieren von Institutionen betreffen, im Grunde genommen nicht-staatliche Antimafia-Politik bedeutet, einfach nach dem Prinzip “Freiheit ist, wenn man nein sagt, wenn man aufhört, Angst zu haben”.
Bei der öffentlichen Veranstaltung am 20. Oktober fragten unsere Aktivisten der bayrischen Gruppe dann explizit, wie wir über die Mafia in Deutschland sprechen und die Deutschen für das Problem sensibilisieren sollen.
Uns wurde gesagt, dass “man Druck auf die Politiker machen muss, insbesondere auf die Kommunalpolitiker (auch im Vorfeld von Wahlen auf Länderebene), und diese fragen muss, was sie gegen die Mafia unternehmen. Wir müssen auch wissenschaftliche Arbeit leisten und ein besser strukturiertes Netz von Kontakten aufbauen. Es ist wichtig, mit jungen Menschen zu beginnen, so wie es in Italien gemacht wird, und darüber zu sprechen.”
Fiammetta Borsellino sagte zudem: “Ich pfeife auf die sterile Erinnerung, darauf, einen Platz nach meinem Vater zu benennen. Es macht nur Sinn, sich an ihn zu erinnern, wenn seine Lebenserfahrungen, seine Ehrlichkeit, seine Liebe zu seiner Stadt, auf den Beinen anderer Menschen weitergehen. Die Kultur der Legalität muss das Kulturerbe eines Volkes werden“.
Auch wir von mafianeindanke hoffen, dass die Kultur der Legalität der Handlungsmaßstab für die Mitglieder der Gesellschaft wird und dass diese Momente des Gedenkens immer internationaler werden und zukünftiges gesellschaftliches Handeln bestimmen. Denn gerade durch die Isolierung bestimmter Helden und die Auffassung, dass die Mafia nur ein Problem bestimmter Regionen oder bestimmter Staaten wäre, wird die Ausbreitung der Organisierten Kriminalität gefördert. Daher werden wir uns weiter engagieren, über die Mafia zu schreiben und zu reden und uns vielleicht auch an den genannten Empfehlungen ein Beispiel für das nächste Jahr nehmen, denn dann stehen Neuwahlen zum bayrischen Landtag an.
Alessandro Bellardita und Fiammetta Borsellino engagieren sich weiter. Wer Lust hat, kann zum Beispiel zum nächsten Treffen mit Alessandro Bellardita (wieder organisiert von der Münchner ComItEs zusammen mit der Dante Alighieri Gesellschaft Augsburg) am 11. November in Augsburg gehen (19 Uhr im Maria-Theresia-Gymnasium).
Einen Livestream der Veranstaltung (auf Italienisch) finden Sie auch hier: https://fb.watch/goRQbOzBC_/