Warum Deutschland Antimafia-Helden braucht

Bild Speisekarte

Heutzutage ist die öffentliche Bedeutung einer Person leicht messbar: Es gibt spezialisierte Unternehmen, die nichts anderes tun, als soziale Netzwerken und Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften zu analysieren, um den Einfluss einer öffentlichen Figur in einem bestimmten Kontext zu verstehen. Wie aber misst man die historische Relevanz einer inzwischen verstorbenen und in der Gegenwart nicht mehr offensichtlichen Person wie Giovanni Falcone und Paolo Borsellino?

Die Frage wird die italienischen Leser sicherlich verwundern, da in Italien täglich über diese beiden Richter und ihre Verdienste gesprochen wird; in Palermo trägt der Flughafen ihren Namen, eine Vielzahl von Schulen und anderen öffentlichen Orten sind nach diesen und anderen Helden der sogenannten „Anti-Mafia“ benannt.
In Deutschland hingegen gibt es so etwas nicht, leider. Die Namen von Orten, die sich auf die Antimafia beziehen, sind sehr wenige: die fabelhafte Friedrichshainer Bar „I cento passi“ ist in Berlin wohlbekannt, und das war es dann vermutlich. Das einzige Restaurant, von dem wir als mafianeindanke-Verein wussten, dass es nach Anti-Mafia-Charakteren benannt war, war die Pizzeria „Falcone e Borsellino“ in Frankfurt. Dieses Restaurant hat jedoch nichts mit Anti-Mafia zu tun.

Es gilt gar als sicher, dass die Besitzer sehr wenig Ahnung vom Kampf gegen die Mafia in Italien haben. Sie mussten gar auf die Webseite Wikipedia zurückgreifen, ein Zitat aus dem Online-Lexikon über das Werk von Giovanni Falcone steht auf der Homepage der Gaststätte. Der Besitzer des Restaurants ist ein deutscher Unternehmer, der der rechtspopulistischen Partei AfD politisch nahesteht. Auf der Speisekarte des Restaurants – neben den Namen der Richter Falcone und Borsellino – sind Einschüsse gezeichnet. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hängt an der Wand neben dem Foto der Richter ein riesiges Bild des Films „Der Pate“. All dies ist aus italienischer Sicht sicherlich nicht respektvoll, aber aus deutscher rechtlicher Sicht ist diese Situation nicht einfach zu handhaben.

Durch einen Kontakt in Frankfurt erfuhren wir schon vor Monaten von einer Klage von Maria Falcone, der Schwester des Richters Giovanni Falcone, und der ihm gewidmeten Falcone-Stiftung, in der das Gericht angerufen wird, um den Eigentümern des Lokals zu verbieten, den Namen „Falcone“ zu verwenden. Das Instrument, mit dem dieses Ziel erreicht werden sollte, war die Bekräftigung der postmortalen Persönlichkeitsrechte. Gerade durch diesen Antrag hatten die Richter die Aufgabe, im Urteil zu klären, wie gesellschaftlich relevant die Animafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino heute für Deutschland sind.

Als deutsche Anti-Mafia-Organisation hat mafianeindanke versucht, den Richtern zu helfen: Wir haben im Internet nach Artikeln über Borsellino und Falcone in deutscher Sprache, die also an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet sind, gesucht; es gibt einige, aber nicht sehr viele. Vor allem werden die Jahrestage der Anschläge erwähnt, die den beiden betroffenen Richtern das Leben kosteten. Auf der Website des Bundeskriminalamtes ist bis heute ein Vortrag veröffentlicht, den Giovanni Falcone bei einer Tagung der Behörde in Wiesbaden hielt. Wir haben auch Informationen über mehrere Besuche von Personen in Deutschland in den letzten Jahren gefunden, die mit Falcone und Borsellino in Verbindung stehen, wie z.B. Salvatore Borsellino, der Bruder von Paolo. Ihr Ziel war, an das beständige Engagement der beiden Richter zu erinnern und das Bewusstsein für den Kampf gegen die Mafia zu stärken. Auch im künstlerischen Bereich haben die beiden Richter viel von sich reden gemacht: So inszenierte der Dramatiker Benjamin Wäntig vor einigen Jahren in Berlin ein Stück von Nicola Sani mit dem Titel „Falcone“ an der Berliner Staatsoper und auch in Theaterstücken sind die Figuren präsent. Falcone und Borsellino sind also in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland durchaus im Gespräch gewesen, und wahrscheinlich haben viele Deutsche durch künstlerische Arbeiten verschiedener Art von ihrem lobenswerten Wirken gehört. Mafianeindanke wolle aber auch aufzeigen, wie wichtig ihr Schaffen heute noch für die Strafverfolgung ist.

Wir haben daher Bürger, die ein gewisses Wissen und Erfahrung zu diesem Thema haben, um ihre Meinung gebeten. Zwei pensionierte Polizeiführungskräfte legten Zeugnis darüber ab, wie wichtig die Arbeit von Borsellino und Falcone für ihre berufliche Erfahrung war und wie wichtig sie auch heute noch ist. Sogar der Direktor des Kriminologischen Instituts der Universität zu Köln hat uns bei dieser Forschungsarbeit mit einem sehr ausführlichen Artikel unterstützt. Auch aus anderen Bereichen kamen Testimonials. Eine Gruppe von Italienisch-Lehrer*innen in Deutschland hat uns einen langen Bericht geschrieben, wie das Thema Anti-Mafia in der Schule erklärt wird, sie beschäftigen sich ausführlich mit den Figuren Falcone und Borsellino. Auch der Dramatiker des Werkes „Falcone“ hat uns einen sehr schönen Text zur Verfügung gestellt. All diese Beiträge wurden zusammen mit einem Kommentar vom Vorsitzenden von mafianeindanke an den Rechtsanwalt der Klägerinnen geschickt und fanden über ihn Eingang in den Prozess. Leider alles vergeblich, denn die Richter in Frankfurt haben nur einzelne Teile des gesammelten Materials in ihr Urteil aufgenommen.

In dem Text stellen sie fest, dass fast dreißig Jahre nach dem Tod der beiden Richter die Verwendung des Namens „Falcone“ in der Art und Weise, wie sie von den Gastronomen vorgenommen wurde, keine Verletzung der Rechte von Maria Falcone und der Stiftung darstellt. Die Richter argumentierten, dass sich die Gastronomen mit dem Namen ihres Restaurants ausschließlich auf Giovanni Falcone beziehen und daher keine Gefahr besteht, dass der Name des Restaurants als Hinweis auf die Schwester des Richters missverstanden wird. Die Richter schreiben weiter: “ Giovanni Falcone kommt zweifelsfrei ein hohes Ansehen wegen seines Wirkens, seines Mutes und der Umstände seiner Ermordung zu. Dies gilt auch für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Durch die Nutzung seines Namens als Gaststättenbezeichnung für eigene kommerzielle Zwecke der Beklagten wird dieses Ansehen beeinträchtigt. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Antrag nur auf Untersagung der Nutzung des Namens allein oder als Bestandteil einer Geschäftsbezeichnung gerichtet ist und dadurch die anderen Umstände, die die Klägerinnen hinsichtlich der Beeinträchtigung anführen wie Verwendung von Fotos mit Einschusslöchern etc, nicht bei der Beurteilung berücksichtigt werden können. “ Schließlich fügen die Richter noch hinzu, dass die Menschen, die das Restaurant besuchten, sich der historischen und kulturellen Bedeutung von Borsellino und Falcone nicht bewusst seien.

Unmittelbar nach dem alarmierenden Urteil Anfang Dezember wurde der italienische Botschafter in Berlin aktiv und schickte ein Mahnschreiben an den Gastronomen. Von diesem Moment an war die Angelegenheit – nachdem die Nachricht über das Urteil in mehreren italienischen Zeitungen veröffentlicht wurde – in Deutschland schnell geklärt: Der Besitzer kündigte an, den Namen des Restaurants zu ändern und bat sogar den Botschafter um Rat. Ist nun alles bestens? Leider nicht, denn wir müssen feststellen, dass dieses Urteil ein Beleg dafür ist, wie wenig Bewusstsein in Deutschland für die Gefahr der mafiösen Unterwanderung vorhanden ist.

Tatsächlich könnte man gerade von einem Frankfurter Gericht mehr erwarten, bedenkt man, dass die Operation Stige 2018 nicht nur mafiöse Aktivitäten in Hessen – dem Bundesland, zu dem Frankfurt gehört – ans Licht gebracht hat. Sondern die Ermittlungen selbst gezeigt haben, dass der Clan der Farao, um den es bei diesen Ermittlungen ging, dort Wurzeln geschlagen hat. Und nicht nur das. Schon fünf Jahre zuvor zeigten Ermittlungen der hessischen Polizei, dass ein Clan aus Corigliano Calabro sich im Frankfurter Umland breitgemacht hat. Seine Methode, Gastronomen Produkte aufzuzwingen, wurde dann vom Farao-Clan übernommen. Diese Clans führten Weine, Öl usw. aus eigener Produktion ein und „verkauften“ sie in der Region. Außerdem wissen wir dank diverser italienischer Ermittlungsakten sehr gut, wie tief die Mafia-Clans in der Bundesrepublik Deutschland verwurzelt sind: von Nord bis Süd, von West bis Ost, in Groß- und Kleinstädten, mit nachgewiesenen Präsenzen aktiver und weniger aktiver Mafiosi. Und eines der Paradoxe ist, dass die deutschen Behörden sich ihrer Anwesenheit durchaus bewusst sind, diese Information aber nicht zum Anlass nehmen, eine Strategie zur Tilgung zu aktivieren. Auch die vielen mahnenden Stimmen, die von den italienischen Behörden zu dieser deutschen Untätigkeit kommen, werden von den Behörden in Deutschland wahrgenommen, ohne dass es praktische Konsequenzen hätte.

All dies macht das Leben einer deutschen Anti-Mafia-Organisation wie mafianeindanke noch komplizierter. Denn diese generelle Haltung der deutschen Institutionen gegenüber mafiösen kriminellen Präsenzen ist derselbe Mechanismus – die Risiken zu kennen, aber nichts oder allenfalls sehr wenig zu tun -, den wir auch im Umgang mit den Bürger*innen täglich beobachten. Dank einiger parlamentarischer Anfragen konnten wir einige Aspekte beleuchten: Erstens wächst die Zahl der mutmaßlichen Mafiosi in Deutschland ständig – die offizielle Statistik spricht von einer Vervierfachung in den letzten zehn Jahren (2007 – 2017); zweitens bleiben diese Zahlen höchst fragwürdig, da sie angesichts der fehlenden konkreten Aufmerksamkeit für das Phänomen in Deutschland höchstwahrscheinlich viel höher liegen; Drittens sind in Deutschland seit der Nachkriegszeit mindestens dreißig Morde durch Angehörige von Mafia-Clans begangen worden – aber auch hier dürfte die tatsächliche Zahl viel höher liegen, da es nicht einmal eine offizielle Statistik über Morde im Zusammenhang mit dem Verbrechen der mafiösen Vereinigung gibt; schließlich gibt es so viele Schwierigkeiten in Bezug auf Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche, die in direktem Zusammenhang mit dem Gegensatz zur kriminellen Präsenz der Mafia in Deutschland stehen.

In diesem schwachen und komplexen System der Bekämpfung der Mafia in Deutschland hätte das Urteil des Frankfurter Gerichts ein Alarmsignal sein können, hätte eine innovative Botschaft lancieren können: „Nehmt das Mafia-Phänomen im Ausland ernst und vor allem nutzt die Erfahrungen der italienischen Anti-Mafia!“. Die Frankfurter Richter hätten in ihrem Urteil Stellung beziehen können. Das haben sie leider nicht. Es wäre eine Chance gewesen, soziale und kulturelle Prävention Organisierter Kriminalität in den Fokus zu rücken. Und zu zeigen, was man – auch über ein Restaurant – den deutschen Bürgern vermitteln kann.

Über die erzürnte italienische Reaktion auf das deutsche Urteil wurde dann auch in vielen deutschen lokalen und überregionalen Zeitungen berichtet. Immerhin wurde die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit so doch noch auf das Thema gelenkt. Damit wurde zumindest verdeutlicht, dass Italien nicht nur das Land ist, in dem die traditionelle Mafia ihren Ursprung hat, sondern dass Italien auch das Land der sozialen Antimafia ist, das sich gegen Stereotypen und Vereinfachungen zu diesem Thema auflehnt. Italien hat damit durch Bürgerinnen, Journalist*innen und Verbände eine alarmierende Botschaft nach Deutschland gesendet. Wer weiß, ob dieses umstrittene Urteil so nicht doch auch einige Menschen in Deutschland zum Nachdenken gebracht hat.