KOKAIN – Eine mafiöse Lieferkette von Kolumbien bis Köln

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Eine Zusammenfassung des Panels „KOKAIN: Eine mafiöse Lieferkette von Kolumbien bis Köln“, das ein Teil des ersten Antimafia-Seminars am 18. November 2023 war. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung ist auf dem Youtube-Kanal von Mafianeindanke zugänglich. Im Rahmen der Debatte über transnationale kriminelle Netzwerke im Kokainhandel ergriffen Sarah David (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)), Dr. Zora Hauser (Universität Oxford)und Dr. Benedikt Strunz (Teamleiter internationale Rechercheprojekte, NDR) mit hervorragenden Vorträgen das Wort.

Helena Raspe, Lateinamerikanistin und stellvertretende Vorsitzende von mafianeindanke, machte in ihren einleitenden Worten deutlich, dass der “Kampf gegen die Drogen”, der von den Vereinigten Staaten ausgerufen wurde und aus Prohibition, Militärinterventionen sowie Mensch und Umwelt schadenden Glyphosatflügen bestand, auch in Lateinamerika endgültig und offiziell gescheitert sei. So postulieren es aktuell nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch der kolumbianische Präsident Petro des weltweit noch größten Produktionslandes und die kolumbianische Wahrheitskommission. Diese hat im Zuge des Friedensprozesses einen Bericht über die systematischen Menschenrechtsverbrechen in Kolumbien während des bewaffneten Konflikts sowie Bekämpfungsstrategien gegen die Kokainmafias vorgelegt. Deutschland erlebt aktuell eine Kokainschwemme, wobei der kalabrischen ‘ndrangheta eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Weltweit bestehen jedoch noch deutliche Forschungslücken zu den Verbindungen zwischen den lateinamerikanischen Kartellen und mafiösen Gruppierungen, die etwa in Deutschland den Kokainschmuggel organisieren. Vor diesem Hintergrund ist es für mafianeindanke unerlässlich, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass der Kokainhandel auf deutschen Straßen Menschenrechtsverbrechen in Lateinamerika finanziert, politische Verantwortungen sichtbar zu machen und Gesprächsräume für eine neue internationale Drogenpolitik zu öffnen. Diese sollte das Thema Organisierte Kriminalität ins Zentrum stellen, den Kampf gegen diese als soziale, ökologische und feministische Frage betrachten und sich nicht nur auf gesundheitspolitische Aspekte konzentrieren.

Sarah David von der GIZ eröffnete das Gespräch mit einer Darstellung der Auswirkungen der Kokainproduktion auf Kleinbäuer*innen in den Produktionsländern Kolumbien, Peru und Ecuador. Die immsense Steigerung des Produktionsniveaus in den letzten Jahren sei insbesondere durch den World Drug Report 2023 des UNODC World Drug Report 2023 deutlich geworden. David stellte eine Reihe von UN-Beschlüssen vor, die für die Bekämpfung des von kriminellen Organisationen in den verschiedenen Produktionsgebieten auferlegten Kokainregimes von großer Bedeutung sind: UN-Single Convention on Narcotic Drugs (1961), UN Convention on psychotropic Substances (1971), UN Convention against illecit traffic in Naroctic Drugs and Psychotropic Substances (1958), UN Political Deklaration (2009), UNGASS (2016) und Ministerial declaration on strenghtening our actions at the national, regional and international levels to accelerate the implementation of our joint commitments to address and counter the world drug problem (2019). Anschließend erläuterte sie die Unterschiede zwischen legalem Anbau der Kokapflanze und illegaler Kokainproduktion sowie die strukturellen sozialen Ursachen, welche Kleinbäuer*innen in die Abhängigkeit der Kartelle treiben. “Es gibt Regionen und Orte in Kolumbien und Ecuador, in denen es keine Straßen gibt, keinen Platz für legale Märkte, Schwierigkeiten für die Menschen, sich zu emanzipieren. Vergessene Orte, ohne sozialpolitische Entwicklungen. Genau an diesen Orten ersetzen kriminelle Gruppen die Daseinsvorsorge des Staates durch Hilfe und Subventionen, die der Staat nicht bietet und vielleicht sogar nicht bieten kann“, erklärte David. Der Preis ist allerdings hoch, insbesondere für Frauen und Minderheiten, die besonders von mafiöser Gewalt betroffen sind, etwa von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe. Im Kontext der ländlichen Drogenökonomie kommt ihnen außerdem eine besondere Arbeitsbelastung zu. Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit setzt deshalb einen Schwerpunkt darauf, die Ursachen der Drogenökonomien und die durch sie verursachten Schäden durch einen ganzheitlichen Einsatz einzudämmen.

Von der Beschreibung der Kokainproduktion ging es weiter zur Darstellung der mafiösen Lieferkette mit Dr. Zora L. Hauser. Unter dem Titel “Kokainströme und das Geschäftsmodell der ‚Ndrangheta” hat Dr. Hauser über ihre Feldforschung in Kolumbien berichtet. Dr. Hauser war zwischen Oktober und Dezember 2022 im Produktionszentrum Tumaco unterwegs. Die kolumbianische Stadt untersteht verschiedenen Gruppen, welche das Gebiet kontrollieren und darum kämpfen. Wie kritisch die Situation ist, erklärte Dr. Hauser, ließe sich aus Botschaften entnehmen, welche kriminelle Gruppen vor Gewalteskalationen an die Zivilgesellschaft senden: “Alle von Ihnen, wir wissen bereits über Ihre Familienangehörigen und Mitarbeiter Bescheid. Wir kennen jeden, der mit den Behörden zusammenarbeitet. Dies wird berücksichtigt. Unschuldige werden sterben. Vermeiden Sie es, nach 20 Uhr unterwegs zu sein. Wir übernehmen keine Verantwortung für das, was Ihnen passiert.” Diese spezifische Nachricht stammt von einer ehemaligen FARC-Gruppe (Disidencia) die ihre Gebiete unter anderem mit  Erpressung, illegalem Goldabbau und Drogenhandel kontrolliert. Während Bilder von heruntergekommenen Städten wie Tumaco auf Google zu finden sind und es Netflix-Serien über Narcos-Kartelle gibt, sind die Broker und Drogenbosse, welche Städte wie Medellín kontrollieren, immer noch unbekannt.

Außerdem ist der Kokainhandel in Europa gestiegen, es werden immer größere Mengen Kokain in europäischen Häfen entdeckt. Rotterdam, Antwerpen und Hamburg sind heute die Einfallstore für Kokain in Europa. Dies wurde 2018 durch die Operation Pollino, eine der größten Operationen gegen die ‘Ndrangheta in Europa, festgestellt. „Die ‚Ndrangheta“, erklärte Dr. Hauser, „ist ein Mafia-Clan, der seinen Sitz in Kalabrien hat.“ Trotzdem hat sich heute die Organisation in ganz Europa und weltweit verbreitet. Nach Ermittlungen zeigt die ‚Ndrangheta in allen Ländern, in denen sie sich befindet, die gleiche traditionelle Struktur. Daten aus der Operation Pollino und der Operation Eureka (2023) zeigen eine wichtige Entwicklung: Während im Zuge der Operation  Pollino 2018 in Deutschland „nur“ vier Tonnen Kokain und Vermögenswerte im Wert von zwei Mio. Euro bei Durchsuchungen in NRW und Bayern entdeckt wurden, wurden bei der Operation Eureka dieses Jahr bereits 25 Tonnen Kokain und Vermögenswerte im Wert von 22. Mio. Euro bei Durchsuchungen in NRW, Rheinland-Pfalz, Bayern, im Saarland und in Thüringen entdeckt. Dies beweist eine unglaublich starke Entwicklung der Organisierten Kriminalität in Deutschland in so kurzer Zeit. Abschließend zitierte Dr. Hauser einige von Sicherheitsbehörden abgehörte Sätze, mit denen Mafiosi ihre Geschäfte in Deutschland beschreiben. Dabei fielen Ausdrücke wie „unsere Freunde, die hierher kommen, um Geschäfte zu machen” oder es wurde die Handlungsweise der Organisation selbst beschrieben: “Wir müssen leise sein, wie in einer Kirche”.

Als letzter berichtete Benedikt Strunz, Leiter des NDR-Investigationsteams, über “Hamburg im Zentrum des globalen Kokainhandels”. “Das Problem der Organisierten Kriminalität ist ein zentrales Problem für die Demokratie und eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit”, stellte Benedikt Strunz fest. Der Journalist der NDR ging auf den Mord an dem niederländischen Reporter Peter De Vries ein, welcher mehrere Kollegen dazu veranlasst habe, ihre Kämpfe aus Angst vor einem ähnlichen Ende aufzugeben. “Aber warum genau Kokain?”, fragte er das Publikum. “Die Antwort dazu ist ganz einfach. Weil der Gewinn enorm ist!” Er erklärte: “Die Vereinten Nationen rechnen mit einem Umsatz von dem Kokainhandel von etwa 10 Milliarden; ich denke, der Wert ist viel höher.“ Diese riesigen Summen werden dann gewaschen und reinvestiert. Der Kokainhandel ist ein unglaubliches Geschäft. Türkische, südamerikanische, afrikanische und albanische kriminelle Gruppen wurden im Hamburger Hafen aufgespürt. Zudem stünden Insider und Mitarbeiter des Hafens zwar oft im Schatten, würden den hinter ihnen stehenden Organisationen aber kontinuierlich helfen. Die Stadt Hamburg muss hier also aktiv werden: Der Hafen braucht neue Anlagen, Investitionen in moderne technische Ausrüstung, so, wie es in Rotterdam und Antwerpen bereits geschieht. Andernfalls wird er bald zum wichtigsten Hotspot für Kokain in Europa werden.

Die anschließende Publikumsdiskussion wurde mit einem Kommentar von Frank Buckenhofer, Vorsitzender der Bezirksgruppe Zoll der Gewerkschaft der Polizei, eröffnet. “Die Organisierte Kriminalität nicht zu bekämpfen, ist eine Niederlage des Staates. Die Politik muss gegen das Phänomen vorgehen. Wir brauchen eine gemeinsame, präzise Strategie, um das Problem an der Wurzel zu bekämpfen, und nicht nur um Drogen in Containern zu finden.“ In seiner Bemerkung betonte er, dass das für die Unterbindung der internationalen Lieferwege (Schmuggel) und die damit einhergehenden Finanztransaktionen (Geldwäsche etc.) zuständige Bundesfinanzministerium (BMF) viel zu wenig unternähme, was auch nur im Ansatz polizeifachlichen Ansprüchen im Kampf gegen Schmuggel und Geldwäsche genügen würde. „Das BMF begreift sich eben nicht als Polizeiministerium“, kritisierte Buckenhofer, was dazu führe, dass der für Schmuggelbekämpfung zuständige Zoll weder personell noch technisch „state ot the art“ ist. Die GdP veröffentlichte zum Antimafia-Seminar eine Pressemitteilung mit ihren Positionen.

Abschließend wurde mit dem Publikum darüber diskutiert, wie der massive Kokainkonsum in Deutschland mehr Raum in kritischen Diskursen und letztlich reduziert werden könnte, und wie mögliche internationale Lösungen zur Austrocknung der mafiösen Lieferkette aussehen könnten, darunter Legalisierungs- oder Regulierungsvorschläge einzelner progressiver lateinamerikanischer Regierungen. Diese komplexen Fragen wird mafianeindanke im Austausch mit den verschiedenen Stakeholdern und im Kontext der geplanten Cannabislegalisierung in Deutschland weiterhin kritisch begleiten.