Statement zur Festnahme von Matteo Messina Denaro

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Matteo Messina Denaro wurde am 16. Januar 2023 in Palermo festgenommen. Wahlweise als „der letzte Corleoneser“ oder der letzte „capo dei capi“ genannt, galt er als Oberhaupt der sizilianischen Cosa Nostra. Er lebte seit 1993 im Untergrund und stand seit langem ganz oben auf den Fahndungslisten. Seit seiner Festnahme reißt die Medienberichterstattung in Italien nicht ab, und immer mehr Details kommen zur Oberfläche.

Insbesondere im italienischen Raum beobachtet mafianeindanke Spekulationen rund um die Festnahme, die teilweise in regelrechte Verschwörungstheorien münden und an deren Kern immer die selbe Vermutung steht: die Festnahme Messina Denaros sei nicht das Resultat langwieriger, engmaschiger Fahndung, sondern Teil einer Abmachung zwischen Politik und Mafia. Auch wenn manch Vermutung nachvollziehbar ist, gibt es keine Beweise oder Ermittlungen in diese Richtung. Im Folgenden soll geklärt werden, welche Theorien zur Festnahme Messina Denaros bestehen und warum man sie zwar durchaus kennen, aber richtig einschätzen und vor allem nicht verbreiten sollte.  

Welche Verdachtsmomente es gibt

Das Datum der Festnahme: Matteo Messina Denaro wurde am 16. Januar 2023 festgenommen. Am Tag davor hatte sich zum 30. Mal die Festnahme des Superbosses Totò Riina gejährt, der unter anderem für die Ermordungen von Falcone und Borsellino und die gegen den italienischen Staat gerichteten Attentate verantwortlich war.

Die „Prophezeiung“ von Salvatore Baiardo im November 2022: Baiardo, ein früherer Helfer der Mafiabosse Giuseppe und Filippo Graviano, hatte in einem Fernsehauftritt im Herbst 2022 spekuliert, Matteo Messina Denaro wäre schwer krank und würde bald festgenommen werden – was sich bewahrheitet hat. Baiardos Rolle ist unklar, manche halten ihn für eine Art Botschafter der Cosa Nostra, andere halten ihm vor, Wahrheit und Unwahrheit bei seinen Auftritten abzuwechseln. Nach Messina Denaros Festnahme ist er beinahe wöchentlich im Fernsehen zu sehen, wo er unter anderem einen Fernsehmoderator eindringlich vor einer unbestimmten Gefahr für diesen warnte, solle er sich weiter mit dem Thema beschäftigen, was als offene Drohung interpretiert wurde.

Messina Denaros Leben vor der Festnahme: nach der Festnahme fand man heraus, dass er keineswegs versteckt, sondern in einer Wohnung in Campobello di Mazara gelebt hatte. Abgesehen von der Nutzung einer falschen Identität hatte er jedoch nicht die erwartete Vorsicht walten lassen. Anders als Bernardo Provenzano, der bei seiner Verhaftung in einem nach außen hin verlassen wirkenden Bauernhaus in Corleone gelebt hatte, wo er von einem Bauern im Geheimen versorgt wurde, dürfte Messina Denaro ein relativ normales Leben geführt haben. Unter anderem fand man im Nachhinein heraus, wo er eingekauft und Kaffee getrunken hatte. In der Privatklinik in Palermo, wo er festgenommen wurde, unterhielt er Kontakte zu anderen Patient:innen und schoss dabei angeblich auch Selfies. Teilweise wurde dies so interpretiert, als hätte er sich bewusst „schnappen lassen“, möglicherweise als Teil einer Abmachung.

Was vermutet wird

Italien blickt auf eine lange Reihe von Episoden zurück, bei denen hochrangige Politiker, Beamte und Unternehmer Kontakte zur Mafia unterhielten und mit dieser sogar kooperierten. Ein bekanntes Beispiel ist die sogenannte „trattativa stato-mafia“ aus den 1990ern, eine Reihe von Absprachen zwischen italienischem Staat und Mafia. Hierbei forderten die Bosse der Cosa Nostra unter anderem immer wieder die Abschaffung oder Einschränkung des Artikel 41 bis, der die strenge Isolationshaft für Mafiabosse regelt. In einem laufenden Gerichtsprozess wird dazu unter anderem gegen den damaligen Leiter der OK-Einheit der Carabinieri und früheren Vertrauten Silvio Berlusconis, Marcello dell’Utri, ermittelt. Auch um die Festnahme Riinas vor dreißig Jahren gibt es diverse Verdachtsmomente, beispielsweise die verspätet erfolgte Durchsuchung von dessen Unterkunft, woraus in der Zwischenzeit allerhand belastendes Material verschwunden und in die Hände Messina Denaros gelangt sein soll.

Rund um die Festnahme Messina Denaros wird ein ähnliches Szenario konstruiert: die Cosa Nostra hätte Messina Denaro „geopfert“, da er ohnehin todkrank und der Moment günstig sei, um im Gegenzug einsitzende Superbosse wie den fast gleichaltrigen Giuseppe Graviano oder den betagteren Leoluca Bagarella in Freiheit zu bringen oder zumindest Hafterleichterungen zu erwirken. Einsitzende Mafiabosse unterliegen üblicherweise dem sogenannten „ergastolo ostativo“, in etwa einer alternativlosen lebenslänglichen Haftstrafe bis ans Lebensende für Mafiabosse, die nur durch ein Geständnis erleichtert werden kann. Eine Maßnahme, die dem harten Kampf gegen die Mafia geschuldet und aus menschenrechtlicher Sicht durchaus grenzwertig ist, weshalb sie auch 2021 vom italienischen Verfassungsgerichtshof für verfassungswidrig erklärt wurde. Daraufhin erließ die Regierung Meloni Ende 2022 ein Dekret, durch welches unter bestimmten Bedingungen Erleichterungen der Haft auch im „ergastolo ostativo“ möglich sein sollten. In der Folge wurde befürchtet, es könnte regelmäßig vorkommen, dass Mafiabosse wie die Gravianos, die sich im Gefängnis üblicherweise vorbildlich verhalten, Hafterleichterungen wie das Ende der Einzelhaft oder gar per Fußfessel überwachten Hausarrest bekommen könnten. Somit steht zwar nicht die Freilassung im Raum, aus der Vergangenheit weiß man aber, dass jede Abwandlung der Isolationshaft die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass Mafiosi wieder mit der Außenwelt kommunizieren können.

Für Spekulationen über ein Komplott zwischen Staat und Mafia gibt es keinen Grund

Es gilt zwar als sicher, dass Matteo Messina Denaros langes Leben im Untergrund nicht nur das Resultat seiner Geschicklichkeit ist, sondern auch einem Netz an Unterstützern zu verdanken war, wie dem früheren Bürgermeister von Castelvetrano, dem Messina Denaro regelmäßig handgeschriebene Zettelchen („pizzini“) schickte. Gegen diese wird bereits jetzt konsequent ermittelt und es ist davon auszugehen, dass es zu weiteren Festnahmen geben wird.

Was hingegen zum heutigen Stand völlig unbegründet und daher als verwerflich zu betrachten ist, sind mögliche Zusammenhänge zwischen der möglichen Reform des „ergastolo ostativo“ und Messina Denaros Festnahme. Es gibt auch keinen Anlass, einen neuen Pakt zwischen Staat und Mafia zu vermuten. Und in der Tat sieht es aktuell keineswegs danach aus, als würde es bald wie befürchtet zur Regel, dass Mafiabosse zukünftig nach festgeschriebenen Automatismen auf freien Fuß gesetzt werden, wo sie an die Spitze der Organisation zurückkehren oder sogar untertauschen könnten. Zwar wird die theoretische Möglichkeit wohl bestehen, aber in der Praxis kaum relevant sein. Einerseits soll sie in den ersten 30 Jahren Haft keine Anwendung finden, zudem müssen triftige Gründe vorliegen, die Verbindungen der Verurteilten mit der Mafia vollständig ausschließen und in die Beurteilung auch verpflichtend unter anderem die Meinung des nationalen Antimafia-Staatsanwalts einfließen[1].

Und auch bezüglich der vermeintlich wahr gewordenen „Prophezeiung“ von Salvatore Baiardo gibt es eine Vielzahl von anderen Möglichkeiten, um die Situation zu erklären. Keineswegs hat Baiardo nämlich prophezeit, Messina Denaro würde sich stellen oder „geopfert“ werden, sondern lediglich von dessen Krankheit und baldiger Festnahme gesprochen. Es ist zwar zu vermuten, dass Baiardo Quellen innerhalb der Cosa Nostra hat und er diese Dinge nicht erfunden hat – auch wenn es schon Jahre davor Spekulationen um Messina Denaro und dessen Gesundheitszustand gab, etwa dass er Diabetiker sei oder Dialyse brauche. Dennoch gibt es diverse andere Möglichkeiten, die Festnahme zu erklären. Unter anderem war Messina Denaro in den Monaten vor der Festnahme ziemlich unvorsichtig geworden. Da er an metastasierendem Darmkrebs leidet und möglicherweise nicht mehr lange zu leben hat, könnte er das Risiko einer Festnahme auch bewusst in Kauf genommen haben.

Verschwörungstheorien lenken nur davon ab, was Messina Denaros Festnahme vor allem ist: ein großer Sieg für den Staat und die Antimafia

Auch wenn Matteo Messina Denaro nie „offiziell“ zum Anführer der Cosa Nostra gekürt wurde, bezweifelt kaum jemand, dass er deren wichtigster Boss war und ist. Er gilt als der unbestrittene Nachfolger des 2006 festgenommenen Bernardo Provenzano und steht wie kein anderer für die Mafia der weißen Kragen, die mittlerweile großteils in legalen Wirtschaftssektoren aktiv ist. Insofern ist seine Festnahme nach mehreren gescheiterten Versuchen ein gewaltiger Erfolg für den italienischen Staat, und mit ihm sitzt die ganze ehemalige Führungsriege rund um Totò Riina hinter Gittern, ohne dass es einen prädestinierten Nachfolger gibt.

Mit Messina Denaros Festnahme wurde erneut ein gewaltiges Zeichen gesetzt, dass die Mafia durchaus zu besiegen ist. Dennoch wäre es trotz der historischen Bedeutung der Festnahme trügerisch anzunehmen, die Cosa Nostra wäre permanent geschwächt. Ihr Erfolg beruht weniger auf mächtigen Anführern, sondern auf ihrer tiefen Verwurzelung im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext des Territoriums, die durch die Festnahme eines Bosses unberührt bleibt.

Aktuell findet diese Diskussion in der italienischen Öffentlichkeit leider wenig Platz. Stattdessen führt das Vorherrschen von unfundierten Spekulationen zu Unsicherheit und Fatalismus, was dringend ein Ende finden sollte. Auch deutsche Medien sollten dies berücksichtigen. Mafianeindanke blickt nichtsdestotrotz positiv auf die Festnahme und folgt dabei dem Motto Giovanni Falcones: Die Mafia ist menschengemacht und wie alles Menschengemachte hat sie einen Anfang und auch ein Ende. 


[1] https://www.ilsole24ore.com/art/giustizia-salvo-l-ergastolo-ostativo-e-rinviata-riforma-cartabia-prime-mosse-governo-AEZWo9CC