Zur Bedeutung des Mafia U-Ausschusses in Thüringen

Mafia-Untersuchungsausschuss Landtag ThüringenErfurt

Im April 2021 hat das Thüringer Parlament einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, der Mafia-Ermittlungen in Thüringen vor etwa zwanzig Jahren beleuchten soll. Basierend auf der Ausgangssituation bestehen Hoffnungen, mehr über die mafiöse Durchsetzung der neuen Bundesländer in der Zeit nach dem Mauerfall zu lernen sowie vor allem vermutete Verbindungen zwischen der Mafia und Organen der Politik, Verwaltung oder Justiz sichtbar zu machen, auf denen die Macht der Mafia basiert und vor denen mafianeindanke seit Jahren auch im deutschen Kontext warnt. Im Folgenden analysieren wir umfangreich den Hintergrund sowie die Bedeutung des U-Ausschusses für Deutschland.

Das italienische Vorbild

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse zur Mafia waren bisher vor allem aus Italien bekannt. Einer der wichtigsten ist jener, der im hochkritischen Jahr 1992 begann, als sich Mafia und Staat offen gegenüberstanden. Am 8. Juni 1992 setzte das italienische Parlament, das erst wenige Monate zuvor gewählt worden war, den vierten parlamentarischen Untersuchungsausschuss zur Bekämpfung der Mafia ein, bestehend aus Mitgliedern von Senat und Parlament. Zwei Wochen zuvor war der beliebte Antimafia-Staatsanwalt Giovanni Falcone bei Capaci in die Luft gesprengt worden, einen Monat später starb sein Kollege Paolo Borsellino vor dem Haus seiner Mutter in der Via d’Amelio auf dieselbe Art und Weise. In dieser Phase wurde in Rom beschlossen, die Beziehungen zwischen Mafia und Politik durch eine in der Verfassung vorgesehene Institution zu untersuchen, und das Ergebnis dieser Untersuchung war alles andere als vorhersehbar. Der so genannte „Violante“-Ausschuss, benannt nach dem Namen des Vorsitzenden, leitete wichtige Ermittlungen ein: Kronzeugen wurden in die Untersuchungen einbezogen, es wurde versucht, die Mafia-Aktivitäten außerhalb der altbekannten kriminellen Sphären zu verfolgen. Zum ersten Mal wurde im politisch-institutionellen Bereich jene Beziehung der „gemeinsamen Existenz“ zwischen Mafia und politischer Macht definiert, an der heute in der öffentlichen Wahrnehmung in Italien keine Zweifel mehr bestehen und die längst durch Gerichtsurteile belegt worden ist. Der mehr als 300 Seiten starke Abschlussbericht des Ausschusses, entstanden während der kürzesten und quälendsten Legislaturperiode aller Zeiten in Italien, stellt ein wertvolles kognitives Gepäck für den Kampf gegen die institutionelle Mafia dar. Es war die letzte Legislaturperiode der so genannten ersten Republik, die von Bombenanschlägen in Palermo, Mailand, Florenz und Rom geprägt war, von den Tangentopoli -Korruptionsermittlungen, dem Andreotti-Prozess und von dem Eintritt von Silvio Berlusconi in das Feld der Politik.

Das thüringische Pendant

Etwa dreißig Jahre später ist die grundlegende Bedeutung dieser politischen Untersuchungstätigkeit zumindest innerhalb der italienischen Grenzen unumstritten, der Untersuchungsausschuss eine dauerhafte Einrichtung. Die Einrichtung eines ähnlichen (aber nicht spiegelbildlichen!) Organs in einem ganz anderen Kontext als der der italienischen Hauptstadt mag zunächst weniger relevant erscheinen. Und doch kann man ohne Schönfärberei behaupten, dass an einem anderen Ort in Europa, in Thüringen, Deutschland, in diesen Monaten ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss arbeitet – auf Länderebene und folglich nicht bundesweit -, dessen Arbeit wichtige Erkenntnisse zur globalisierten Mafia liefern könnte, wenn man nur will, und der den Schleier der weit verbreiteten Unwissenheit zu diesem Thema zerreißen könnte. Im April 2021 wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, mit dem Ziel, eine wichtige lokale Episode der Vermischung von Mafia und Institutionen in Thüringen aufzuklären. Der Minderheitsantrag der Fraktionen Linke, SPD und Grüne im Landtag, der zur Einsetzung des Ausschusses führte, bezog sich zunächst nur auf die Umstände der endgültigen Einstellung der von der Staatsanwaltschaft Gera geführten Ermittlungen zu den Aktivitäten des Pelle-Romeo-Clans in der Region. Es besteht der Verdacht, dass die Ermittlungen damals gestoppt wurden, weil mögliche Verbindungen zwischen den Beschuldigten und Politik, Verwaltung oder Justiz sichtbar wurden.

Inzwischen hat das Plenum des Ausschusses den Untersuchungsgegenstand erweitert. Nun soll der gesamte Entwicklungsprozess der ’ndrangheta in Thüringen in den Blick genommen werden. Die Abgeordneten werden sich auf den Grad der Sensibilisierung der Behörden vor Ort, auf ihre Bemühungen zur Eindämmung der Mafia-Kriminalität und möglicherweise auf den Umgang mit den Verdächtigen konzentrieren müssen. Aber der Reihe nach.

Die Vorgeschichte

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre begannen in Thüringen Ermittler, Fragen zur möglichen Präsenz der ‚Ndrangheta in ihrem Gebiet zu stellen. Knapp ein Jahrzehnt nach dem Fall der Berliner Mauer und der damit verbundenen Wiedervereinigung von Ost und West war Thüringen wie jedes andere Gebiet Ostdeutschlands immer noch damit beschäftigt, die Scherben der fatalen Auswirkungen des ideologischen, politischen und sozialen Zusammenpralls zwischen dem Westen und der DDR zusammenzufügen. Es ist inzwischen bekannt, dass sich in diesen Bruch, individuell und kollektiv, auch die italienischen Mafia-Verbindungen einfügten, wie die oberste italienische Antimafia-Polizeibehörde DIA im ersten Halbjahresbericht 2018 feststellt. Sie schreibt: „die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen im Zusammenhang mit der nationalen Wiedervereinigung, die ab den 1990er Jahren stattfand, ermöglichten es den Mafiafamilien, die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Möglichkeiten optimal zu nutzen“.

Damit könnte auch die Treuhandgesellschaft gemeint sein. Die Behörde wurde 1990 mit der alleinigen Aufgabe gegründet, mehr als 8.500 staatliche Unternehmen, rund 2,4 Millionen Hektar Ackerland und Wälder, das Eigentum der ehemaligen Stasi, große öffentliche Wohnsiedlungen und das staatliche Apothekennetz zu privatisieren. Es war der ehemalige Präsident der Treuhandgesellschaft selbst, der erklärte, dass Korruption „nicht zu vermeiden ist, wenn man mit Tausenden von Unternehmen zusammenarbeitet. „

Zu der Zeit hörte ein Ermittlerteam unter der Leitung von Bernd Finger ein emblematisches Gespräch zwischen zwei Mitgliedern der ’ndrangheta ab, in dem der eine den anderen dazu drängte, „zu kaufen, kaufen, kaufen“! Und gerade die ‚Ndrangheta war mehr als die anderen „historischen“ italienischen kriminellen Organisationen in der Lage, sich das riesige wirtschaftliche Terrain Deutschlands zunutze zu machen. Bereits in den 90er Jahren stellte eine Studie der DIA und des Bundeskriminalamtes (BKA) fest, dass etwa hundert Einwohner in Deutschland mit Mafia-Clans in Verbindung standen, von denen sich etwa 50 % in Baden-Württemberg niedergelassen hatten (mafianeindanke berichtet regelmäßig), einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Regionen der Europäischen Union, zusammen mit Katalonien und der Lombardei. Mehr als dreißig Jahre später hat sich die Situation mehr als verschlimmert: das BKA schätzte im Jahr 2020 die Zahl der in Deutschland anwesenden italienischen Mafiosi auf 770: Unter anderem 505 Mitglieder der ‚Ndrangheta, 109 der Cosa Nostra, 30 der Abspaltung der Cosa Nostra namens Stidda, 101 Camorra-Mitglieder (Seit dem Besuch einer Konferenz von mafianeindanke fragte das Büro der Grünen-Abgeordneten Irene Mihalic die Bundesregierung regelmäßig nach den neuesten Zahlen). So kam auch heraus, dass die Bundesregierung das Dunkelfeld der Mitglieder der ’ndrangheta auf 800-1000 Personen schätzt. Diese Zahlen sind wohl aber zu niedrig: Der Staatsanwalt von Catanzaro, Nicola Gratteri, benannte in mehreren Interviews die Zahl der „locali“ der ‚Ndrangheta, d.h. einer Art Ortsvereine der ’ndrangheta in Deutschland, mit „mindestens 60“. Jedes Locale hat laut Reglement mindestens 50 Mitglieder (und nicht maximal 50, wie in der Antwort der Bundesregierung angegeben!), somit würde sich die Zahl von 1.000 Mitgliedern mehr als verdreifachen. Die Aussage des ehemaligen BKA-Präsidenten Jörg Ziercke überrascht somit nicht: Dieser sagte 2013 während einer Konferenz zum Gedenken an den sizilianischen Journalisten Beppe Alfano, ein unschuldiges Opfer der Mafia, den Satz: „Das (organisierte) Verbrechen in Deutschland heißt ‚Ndrangheta‘.

Die großflächige und flächendeckende Unterwanderung durch die Mafia rief Ende der 1990er Jahre die Staatsanwaltschaft Gera und Ermittler in Thüringen auf den Plan. Die Autorin Petra Reski und der Autor Jürgen Roth hatten zuerst über diese Ermittlungen berichtet, dann haben Journalist*innen des Mitteldeutschen Rundfunks und der FAZ dazu recherchiert. Einige kalabrische „Gastronomen“, die nach 1992 nach Thüringen gekommen sind, seien im Rahmen der so genannten Operation „Fido“ beobachtet worden. Es habe Abhörmaßnahmen gegeben, rund 4.000, und es sei gar gelungen, über einen längeren Zeitraum verdeckte Ermittler in die „Erfurter Gruppe“ einzuschleusen, d. h. in die örtliche ‚Ndrangheta, die für das Gebiet der Landeshauptstadt Erfurt, der bevölkerungsreichsten Stadt der Region, zuständig ist und auf die Familien Pelle und Romeo zurückgeht.

Die scheinbare und typisch deutsche Normalität, die das tägliche Leben der Stadt durchdringt, die in den Jahren unmittelbar vor dem Fall der Mauer Sitz der wichtigsten Anti-UdSSR-Bewegungen war, mag weniger aufmerksame Beobachter täuschen. Jürgen Roth schrieb dazu, die Kalabrier hätten „eine Art Monopol im Gaststättengewerbe erworben“.

Die handelnden Personen

Die ‘ndrangheta-Präsenz währt mittlerweile Jahrzehnte: Wie Francesco Forgione in seinem Buch „Mafia Export“ im Detail berichtet, hatte Erfurt bereits in den 1990er Jahren „exzellente“ Gäste. Domenico G. zum Beispiel eröffnete zwei Restaurants im Zentrum von Erfurt, nachdem er jahrelang die dann traurig berühmt gewordene Pizzeria „Da Bruno“, den Schauplatz des berühmten Duisburger Massakers, geführt hatte. Die Restaurants waren in der großbürgerlichen Welt der thüringischen Hauptstadt besonders erfolgreich, auch dank ihres wertvollen Mitarbeiters Spartaco P., inzwischen verstorben. Der in der Toskana geborene, aber auch aus Kalabrien stammende P. war den deutschen und italienischen Sicherheitsbehörden gut bekannt. Sie bezeichneten ihn als „einen der Hauptorganisatoren der kalabrischen ’ndrangheta-Gruppe und insbesondere der Gruppe aus San Luca, die beschließen, in Deutschland zu investieren, indem sie Restaurants, Pizzerien und Hotels im Raum Duisburg und Erfurt kaufen“. Damit sind einige der Themen genannt, auf die sich die FIDO-Untersuchung konzentrierte. Neben Domenico G. wohnten in Erfurt auch sein Schwager Giuseppe G. und sein Cousin und Schwager Domenico G.. Gleiche Vor- und Nachnamen sind bei Mafiamitgliedern häufiger der Fall. Oft unterscheiden sie Ermittler daher nach ihrem Geburtsdatum oder gar dem Namen der Eltern. Der ehemalige Inhaber des „Da Bruno“ wurde 1963 geboren, sein Verwandter 1960. G. „63“ war den italienischen Behörden bereits vor seiner Ankunft in Deutschland gut bekannt: In einer Bestimmung des Polizeipräsidiums von Reggio Calabria vom Februar 1986 wurde er als „einer der fähigsten jungen Männer aus San Luca im Bereich von Entführungen, Raub, Erpressung und anderen Verbrechen, die in Kalabrien, an der ionischen Küste und in Norditalien begangen wurden, sowie der Unterstützung von Flüchtigen“ verdächtigt.

Sie gehören zum Pelle-Clan, sowohl in krimineller als auch in familiärer Hinsicht: Giuseppe G. ist mit der Nichte von Antonio Pelle „Gambazza“ verheiratet, einem hochrangigen Boss, der 2009 nach jahrelanger Flucht verhaftet wurde und einige Monate später an einem Herzinfarkt starb. Die Geschichte der ’ndrina Pelle, ihrer Verbündeten, der erlittenen und verursachten Todesfälle, ihrer wirtschaftlichen und kriminellen Interessen überspannt Jahrzehnte. Trotz der Verhaftung von Ciccio Pakistan (Francesco Pelle) im März 2021 in Lissabon, der sich damit brüstete, zu den zehn gefährlichsten flüchtigen Personen Italiens zu gehören, ist sie noch lange nicht beendet. Die Familie Pelle gehörte zu der einen Gruppe in dem blutigen Streit, der 2007 zu dem Massaker von Duisburg führte: Sechs von ihnen im Alter zwischen 16 und 39 Jahren wurden von Mitgliedern des Nirta-Strangio-Clans getötet. Die Fehde begann 1991 und wurde dann von der ’ndrangheta-Führung nach dem ersten und dementsprechend aufsehenerregenden Mafia-Massaker außerhalb Italiens in der Geschichte beendet. Das ist zwar sehr interessant, aber eine andere Geschichte.

Was ein Untersuchungsausschuss leisten sollte

In diese Gemengelage ordnet sich der Untersuchungsausschuss in Erfurt ein. Um auf die Stadt und die Familie Pelle-Vottari zurückzukommen: auch andere wichtige Personen des Clans in Thüringen sind bzw. waren präsent: Giuseppe P., verantwortlich für die Ermordung eines Rivalen des D’Agostino-Clans in Italien und Schwiegersohn des Barbaren-Clans von Platì; Giuseppe N. (aus Locri, nicht zu verwechseln mit den Feinden Nirta-Strangio), Mitbetreiber eines der zwei oben erwähnten Restaurants in Erfurt; Domenico G. (geboren 1975), ein weiterer Cousin gleichen Namens wie G. „63“. Für eine kurze Zeit zwischen 2003 und 2005 kamen Sebastiano P., Santo V., Francesco V. und Sebastiano R. hinzu, bedeutende Personen aus Sicht der ’ndrangheta. Aber abgesehen von den Namen, die sich oft ähneln, wenn nicht sogar gleich sind, was die Bedeutung der familiären Bindungen innerhalb der ‚Ndrangheta zeigt, sind die Handlungsmuster und die Verwurzelung dieser Personen mit dem Bezugsgebiet viel wichtiger. Solche Muster finden sich in Thüringen, wiederholen sich aber auch in ganz Deutschland, auch in Gebieten mit sehr hoher Mafiakonzentration wie Baden-Württemberg. Zora Hauser, Soziologin und Doktorandin in Oxford, befasst sich seit vier Jahren mit der ‚Ndrangheta in Deutschland. Sie stellt fest, dass „im Gegensatz zu Kalabrien, wo die Machtverteilung streng an eine territoriale Unterteilung gebunden ist, die zur Vermeidung von Kriegen festgelegt wurde, in Deutschland eine Überschneidung mehrerer Clans, die auch verfeindet sind, in denselben geografischen Gebieten zu beobachten ist“.

Dass so viele ’ndranghetisti ein Restaurant betreiben, darf jedoch nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass alle Gastronomen mafiös sind. Diese Aussage mag trivial erscheinen, aber sie sollte getätigt werden, wie auch Pino Bianco, ein seit Jahrzehnten in Berlin ansässiger Gastronom in Berlin betont. Mit seinem „A Muntagnola“ betreibt er eines der am längsten bestehenden italienischen Restaurants in Schöneberg, einem Bezirk, der symbolisch für LGBTQ+-Kämpfe steht. 2007 wurde er zu einem Mitbegründer von mafianeindanke. „Nach Duisburg fragten die Leute die Taxifahrer, ob es sicher sei, bei uns zu essen. Die Bild-Zeitung titelte, wer in die Pizzeria geht, zahlt Schutzgeld, und erst mit der Zeit haben wir diesen Glauben widerlegen können.“ Für mafianeindanke ist es ein wesentliches Anliegen, nicht nur auf die Gefahr der italienischen Organisierten Kriminalität in Deutschland hinzuweisen, sondern dabei auch die italienischstämmige Bevölkerung in Schutz zu nehmen, von der nur ein sehr kleiner Teil mafiöse Verbindungen aufweist.

Das vorherrschende Narrativ schlägt weiters vor, den Mafia-Typus im Ausland als den des Kriminellen darzustellen, der, nachdem er in Italien abscheuliche und schreckliche Verbrechen begangen hat, einen Ort braucht, an dem er das von ihm erwirtschaftete Kapital investieren kann. Aus diesem Grund gibt es eine – Fast- – Übereinstimmung zwischen der Figur des Mafioso und der des Gastronomen. Doch selbst wenn sich dies in allen Teilen des Landes bestätigt, ist die Annahme, dass die Rolle der mafiösen Macht in Deutschland ausschließlich mit der „Lebensmittelwäsche“, d.h. der Geldwäsche durch Gaststättenbetriebe, zusammenhängt, vollkommen unzulässig. Andernfalls droht die Gefahr, die Mafiosi als eher primitive Kriminelle einzustufen, die sich auf wenig komplexe und anspruchslose Tätigkeiten wie die Geldwäsche durch Restaurants konzentrieren. Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, dass die Mafia auch vor komplexen Straftaten, wie ein kürzlich aufgedecktes Umsatzsteuerkarussell (https://mafianeindanke.de/mafioeser-umsatzsteuerbetrug/), nicht zurückschreckt sowie wesentlich größere Geldsummen verschieben, investieren und waschen kann. Das zeigt auch das Fido-Ermittlungsverfahren. Es ist ein mafiöser Unternehmer, der im Umfeld der Fido-Operation abgehört wurde und der am Telefon mit einem „Kollegen“ beteuert: „Wenn wir nur Gastronomen sein wollten, würde ein kleines Restaurant mit zehn Tischen ausreichen. Wir sind Investoren“. Um jedoch ein Investor mit großen Kapitalbeträgen zu sein, braucht man mehr als nur ein paar Tische, einen Koch und Angestellte. Man braucht das, was die kriminellen Organisationen in Italien im Laufe der Jahrhunderte der territorialen Kontrolle erlangt haben: politischen Schutz, jenes Zusammenleben, das die Violante-Kommission in Italien ausführlich untersucht hat. Und der Zweifel, dass die kalabrischen Ableger in Deutschland dies schon seit Jahrzehnten genießen, hat zur Einsetzung der Enquete-Kommission im Thüringer Landtag geführt.

Wie der MDR herausfand, wurde die Operation Fido im Jahr 2006 drastisch und endgültig eingestellt. Die offizielle Begründung für diese Einstellung war die Gefährlichkeit, die aus den Maßnahmen resultierte: Ein verdeckter Ermittler war Ende 2001 zu einer Hochzeit in San Luca eingeladen worden, und die Staatsanwaltschaft Gera beschloss, sich mit den italienischen Behörden abzustimmen, um die Ermittlungen fortzusetzen. Nach der Zustimmung Italiens kam der Stopp jedoch von der Thüringer Staatsanwaltschaft, die von der Staatsanwaltschaft Gera überstimmt wurde und beschloss, die Infiltrationsstrategie nicht fortzusetzen. Damit wurde das Ende eines Ermittlungsverfahrens verkündet, dessen Akte 2006 formell geschlossen und bis zur Wiederentdeckung der MDR-Journalisten, ohne die das unbekannt wäre, vergessen wurde.

Jetzt werden die Landtagsabgeordneten die Ermittlungsakten durchsehen und prüfen müssen, ob es Verbindungen zwischen Politikern, Rechtspflegern und der Familie Pelle-Romeo gab. Dies sollte nicht überraschen. Es ist bereits bekannt, dass Pitanti und Giorgi „63“ in Erfurt wohl wichtige Freunde gefunden haben, wie Bernhard Vogel, ein Politiker der CDU, und Richard Dewes von der SPD, ehemaliger Ministerpräsident bzw. Innenminister des Bundeslandes Thüringen. Wie Francesco Forgione in „Mafia Export“ berichtet, waren beide Politiker tatsächlich beim Abendessen im Paganini anwesend, als die Polizei das Restaurant im Zusammenhang mit einer Mordermittlung durchsuchte. Um ihre Position im Erfurter Großbürgertum zu verbessern, finanzierten einige Mafiosi auch die Fußballmannschaft von Rot-Weiß Erfurt und spendeten an Waisenhäuser und kulturelle Einrichtungen. Nach Angaben von MDR-Journalisten gehören der Erfurter Gruppe etwa 50 Unternehmen, und der Verdacht, dass ihre Mitglieder in der Lage sind, institutionelle Kreise zu infiltrieren und lokale Politiker direkt zu finanzieren, ist nicht unbegründet. Und genau in diesem Bereich der Unkenntnis wird sich der Untersuchungsausschuss bewegen müssen.

„Es ist unsere Aufgabe als Parlament“, sagte die Ausschussvorsitzende Iris Martin-Gehl (Linke) in der Plenarsitzung im April 2021, „den Verdacht zu äußern, dass Politik, Verwaltung und Justiz sehr nah an der Kriminalität sind. Wir müssen diese Strukturen sorgfältig untersuchen, denn es sind diese mafiösen Strukturen, die in Geldwäsche und mehr verwickelt sind, deren Verbrechen ihnen jährlich Milliarden von Euro einbringen und der EU wirtschaftlichen Schaden zufügen.“ Mafianeindanke erkennt ebenfalls die Bedeutung der Arbeit der Kommission an – als Verein sind wir sehr daran interessiert, dass die Arbeit der Kommission fortgesetzt wird. Heute beginnt sich der Kontext zu ändern, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns, um aufzuholen.

Was im Thüringer Ausschuss passiert, kann zu einem Leuchtturm im Kampf gegen die Mafia werden. Spannende Ansatzpunkte sind vorhanden. Beispielsweise berichtete eine Zeugin vom BKA, dass ein Staatsanwalt ihr damals zugesichert habe, dass die Ermittlungen gegen die ’ndrangheta in Erfurt gewiss für mindestens fünf Jahre durchgezogen würden, eine Woche später hatte er das Verfahren abgeblasen. Um solche und andere wichtige Fragen zu klären, müsste vermutlich die Intensität hochgefahren werden. Zu hoffen bleibt, dass Deutschland auf lange Sicht nicht eine Entwicklung wie Italien durchmacht: Das Land hat die „beste“ (und auch einzige) Anti-Mafia-Gesetzgebung in Europa, es kann von der hervorragenden Arbeit von Männern und Frauen in der Justiz und von spezialisierten Polizeikräften profitieren, es ist Heimat der am längsten bestehenden Anti-Mafia-Organisationen der Welt – und trotzdem erlebt es, dass sich Politik und Gesellschaft immer weniger für den Kampf gegen die Mafia interessieren. Während kriminelle Organisationen zu fiktiven Unternehmen, zu multinationalen Konzernen mit globalen Verzweigungen geworden sind, ist das Thema Mafia auf die Intervention einiger weniger, auch professioneller Personen, beschränkt geblieben und steht nur selten ganz oben auf der politischen Agenda der großen nationalen Parteien. Eine fromme Hoffnung wäre, dass von den Untersuchungen in Erfurt ein Impuls ausgeht, der nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa Anstöße gibt, die Gefahr der ’ndrangheta und der transnationalen Organisierten Kriminalität endlich ernst zu nehmen.