Italien hatte bekanntlich einen der längsten und härtesten Lockdowns zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. Die mediale Berichterstattung konzentrierte sich hauptsächlich auf tagaktuelle Updates der Neuinfektionen und Todesfälle, während der Rest des Landes stillstand. Seit Mitte April konnte man hingegen vermehrt eine hitzige mediale und öffentliche Diskussion beobachten, die sich auf die großteils temporäre Entlassung von Gefängnisinsassen in den Hausarrest konzentrierte. Am 21. April schrieb Lirio Abbate im L’Espresso über die Entlassung des schwerkranken Palermitaner Mafiabosses Francesco Bonura in den Hausarrest und prophezeite die Entlassung weiterer hochrangiger Bosse und als Folge die erneute Erstarkung von Mafiafamilien. Bonura war bisher in Einzelhaft unter dem besonders strengen 41bis-Regime eingesessen, in dem Kontakt zur Außenwelt als de facto ausgeschlossen gilt, was unter Umständen im Hausarrest nicht garantiert werden kann. Es folgten weitere Entlassungen und eine Welle öffentlicher Empörung. O-Ton: die Entlassungen sind vollkommen ungerechtfertigt und die Folge eines wenig durchdachten Covid-19-Dekrets der Regierung. Die Folge waren der Rücktritt des Direktors der Gefängnisverwaltungsbehörde DAP sowie die vorgezogene Wiederinhaftierung einiger Bosse.
Mittlerweile hat sich die Lage einigermaßen normalisiert und die Gemüter sind abgekühlt. Was bleibt, ist der Eindruck einer emotionalisierten und unsachgemäß geführten öffentlichen Debatte, in der kaum jemand sich traute, Zweifel an der allgemeinen Schlussfolgerung zu erheben, dass die Entlassungen ausnahmslos ungerechtfertigt erfolgt sind. Mafianeindanke hat im Folgenden versucht, eine möglichst sachgemäße Analyse der Ereignisse zu präsentieren, die im Wesentlichen zeigt, dass es dazu gar keine eindeutige Position geben kann.
Was bisher geschah
Schon bevor die Ausrufung des italienweiten Lockdowns die Gefährdungslage durch Covid-19 schmerzhaft verdeutlichte, brachen rund um den 8. März in dutzenden italienischen Haftanstalten Häftlingsaufstände aus, die von der Gefängnispolizei nur mit Mühe eingedämmt werden konnten. Temporäre Geiselnahmen von Gefängniswärtern, diverse Tote und Ausbrüche wie im apulischen Foggia waren die Folge. Während die schon länger bekannte chronische Überfüllung der italienischen Haftanstalten, die damit zusammenhängende Angst vor einem Corona-Ausbruch und übereilt angekündigte Besuchsverbote als wesentliche Auslöser anerkannt sind, wurde insbesondere darauf hingewiesen, dass die Aufstände mehr oder weniger gleichzeitig – innerhalb weniger Tage – stattfanden. Nicola Gratteri, der wohl bekannteste Antimafia-Staatsanwalt im Kampf gegen die ‘Ndrangheta, hat dies als Folge der unbemerkten Verbreitung von Handys in den Gefängnissen interpretiert. Einige der eingeschalteten Ermittler sind der Ansicht, dass hinter einer derartig minutiösen Ablauforganisation nur die Mafia stehen kann. Während sich das Coronavirus weiterhin ausbreitete und erste Fälle in den Haftanstalten bekannt wurde, befand sich das italienische Justizministerium in einer Zwickmühle. Die Gefahr von unkontrollierbaren Gefängnisrevolten und Corona-Clustern mussten mit der Frage abgewogen werden, ob Maßnahmen zur Reduktion der Insassen wie etwa die Verordnung von Hausarrest nicht als Nachgeben des Staates gegenüber der Kriminalität und somit auch der Mafia interpretiert würden.
Am 17. März wurde ein Gesetzesdekret veröffentlicht, das in Zusammenhang mit den späteren Entlassungen eine unglaubliche Verwirrung stiften sollte. Neben vielen anderen Maßnahmen in Zusammenhang mit der Pandemie beinhaltete das „Cura Italia“ – Dekret auch einen Passus, demzufolge Gefängnisinsassen mit einer Reststrafe von maximal 18 Monaten – ungeachtet der Gesamtstrafe – die Entlassung in Hausarrest bis zumindest Ende Juni beantragen konnten. Die Gefährlichkeit der Insassen sowie das Vorhandensein einer geeigneten Unterkunft mussten dennoch von der Administration der jeweiligen Anstalt geprüft werden. Von der Anwendung der Maßnahme waren diverse Kategorien von Insassen im Vorfeld explizit ausgeschlossen, darunter alle Schwerverbrecher und somit auch wegen Mafiazugehörigkeit Verurteilte. Wie schon das Dekret vom 17. März führte wenig später ein vom 21. März datierendes Rundschreiben der Gefängnisverwaltungsbehörde zu Missverständnissen. Konkret lud das Schreiben die Gefängnisdirektoren ein, diejenigen Insassen an die Gerichte zu melden, die unter schweren Vorerkrankungen litten oder zumindest 70 Jahre alt waren. Dieses Schreiben beinhaltete offenbar keine weiteren Erklärungen, was mit diesen Insassen konkret geschehen sollte, außerdem differenzierte es im Gegensatz zum Dekret vom 17. März nicht zwischen unterschiedlich gefährlichen Insassen.
Als rund um den 21. April der bereits erwähnte Boss Francesco Bonura aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Opera im Süden Mailands in den Hausarrest nach Palermo entlassen wurde, wurde die Nachlässigkeit bei der Formulierung des Rundschreibens unmittelbar bestraft. Das Schreiben selbst wurde breit als Einladung zur schnellen Entlassung von alten oder/und kranken Straftätern – darunter viele Mafiabosse – ohne weitere Prüfung deren individueller Gefährlichkeit interpretiert. Ebenso ging in den Medien unter, dass solche Aktionen unmöglich aufgrund des „Cura Italia“ – Dekrets geschehen konnten, das Schwerkriminelle explizit ausschloss. Angesehene Medien wie die Wochenzeitung L’Espresso sowie die Onlineredaktion Fanpage versäumten nicht, sofort furchteinflößend lange Listen von Mafiabossen zu stilisieren, die theoretisch die Kriterien des Rundschreibens erfüllten. Darunter waren unter anderem Leoluca Bagarella, der nach der Verhaftung Totó Riinas bis zu seiner eigenen Festnahme dem Staat mit einer Gewaltstrategie den Kampf angesagt hatte, Raffaele Cutolo, Gründer der Nuova Camorra Organizzata, und Pippo Calò, früherer Statthalter von Cosa Nostra in Rom.
Die Nachricht von einer drohenden Neuzusammensetzung geschwächter Mafiaclans durch Bosse im Hausarrest wurde auch hierzulande häufig aufgegriffen und thematisiert. In den darauffolgenden Tagen kamen weitere Kaliber frei, darunter auch Pasquale Zagaria, mutmaßliches wirtschaftliches Gehirn des geschwächten Casalesi-Clans. Die Liste der Entlassenen wurde Anfang Mai der Tageszeitung La Repubblica zugespielt, die prompt titelte: „376 Mafiabosse auf freiem Fuß. Die geheime Liste, von der die Gerichte alarmiert sind“. Später erfolgte eine Korrektur der Anzahl von 376 auf 498. Staatsanwalt Nino di Matteo hypothesierte öffentlich ein Nachgeben des Staates gegenüber der Mafia als Folge der Gefängnisaufstände, ebenso der Kriminologe Nando Dalla Chiesa. Die einen Skandal witternde Öffentlichkeit hatte schnell die Verantwortlichen gefunden und attackierte frontal den Justizminister Alfonso Bonafede, unter anderem mit der Anschuldigung, er habe sich bei der Entscheidung über die zuständigen Behörden hinweggesetzt. Dieser unterstrich öffentlich die völlige Unabhängigkeit der Gerichte, welche die Entlassungen angeordnet hatten, und lehnte Rücktrittsforderungen ab. Der Direktor der Gefängnisadministrations-behörde, Francesco Basentini, räumte jedoch mit Ende April seinen Stuhl, nachdem er nach den Gefängnisaufständen auch wegen des schwammig verfassten Rundschreibens vom 21. März stark in der Kritik gestanden hatte. Unter der neuen Führung durch Dino Petralia wurde eilig ein neues Gesetzesdekret erlassen, das zum erklärten Ziel hatte, Maßnahmen zur schnellstmöglichen Rückkehr der entlassenen Kriminellen in die Haftanstalten zu ergreifen. La Repubblica verglich die Maßnahme mit „dem Versuch, Zahnpaste wieder zurück in die Tube zu drücken“, während Bonafede sich in ein gutes Licht zu stellen bemühte.
Warum eine nüchterne Aufklärung der Ereignisse dringend notwendig ist
Wer sich länger mit dem Thema beschäftigt, stellt schnell fest, dass die obenstehende Chronologie das Resultat von fehlender Transparenz, schlechter Kommunikation und vor allem wissentlich verzerrter oder falscher Berichterstattung ist. Wie oben erwähnt, war nicht einmal die Gesamtanzahl der Entlassenen klar: Anfang Mai war die Rede von 376 entlassenen Schwerkriminellen, etwas später wurde die Zahl auf 498 korrigiert. Ein weiteres Problem: viele Medien setzten mehr oder weniger wissentlich Schwerkriminelle mit Mafiabossen gleich und veröffentlichen Schlagzeilen wie „376 Mafiabosse auf freiem Fuß“ (La Repubblica). In einigen Fällen wurde dann im Artikel selbst präzisiert, dass unter den 376 auch einfache Mitglieder oder Affiliierte der Clans waren, manchmal auch nicht. Ebenso wurde oftmals der Eindruck erweckt, für alle dieser Insassen oder den Großteil von ihnen hätte das strengste Gefängnisregime nach Paragraf 41bis gegolten. Wäre das der Fall gewesen, hätte man eine breit geführte Diskussion durchaus rechtfertigen können, schließlich sieht dieses besonders schwere Gefängnisregime unter anderem Isolationshaft sowie zeitlich beschränkten und ebenso allein zu verbringenden Hofgang vor, wodurch allenfalls minimale Ansteckungsmöglichkeiten bestehen sollten. Tatsächlich wurden lediglich vier Insassen, die vom 41bis betroffen waren, vorübergehend aus dem Gefängnis in Hausarrest entlassen, darunter Francesco Bonura und Pasquale Zagaria. Natürlich bedeutet das nicht, dass lediglich vier Mafiosi von der Maßnahme betroffen waren. Auch unter den Entlassenen aus den anderen Hochsicherheitstrakten waren einige wegen Zugehörigkeit zur Mafia verurteilte Straftäter, nur dass sie aus juristischer Perspektive keine Führungsrollen innerhalb ihrer Organisation einnehmen – ansonsten wären sie unter dem 41bis-Regime inhaftiert. Man kann somit feststellen, dass viele Medien die öffentliche Debatte durch wissentlich falsche Stimmungsmache und Diffusion unpräziser Informationen zusätzlich angeheizt haben.
Von juristischer Seite ist es wiederum notwendig, die tatsächliche rechtliche Basis für die Entlassungen zu klären. Wie bereits erwähnt, konnten die Inhalte des „Cura Italia“ – Dekrets auf Mafiabosse keine Anwendung finden. Stattdessen wurden die – zumindest laut letztem Stand – 498 Entlassungen auf Basis des gewöhnlichen Strafrechts beschlossen. Der zuständige Richter kann die Aussetzung der Strafe beschließen, wenn ein Gefängnisinsasse sich in einem Gesundheitszustand befindet, der die weitere Inhaftierung unmöglich macht. In jedem Fall muss zuvor geprüft werden, ob konkrete Gefahr des erneuten Begehens von Straftaten besteht. Ist das nicht der Fall, kann der Richter anstatt einer vorübergehenden Freilassung den Hausarrest anordnen. Zusätzlich kann jegliche Kommunikation nach außen verboten und die ständige Überwachung der Einhaltung dieser Vorgabe durch die Ordnungskräfte verfügt werden. Wenig überraschend haben Journalisten bei den Häusern von Mafiabossen im Hausarrest stets ein beeindruckendes Polizeiaufgebot vorgefunden.
Für Verschwörungstheorien gibt es keinen Grund
Anhand des letzten Absatzes kann man zweifellos feststellen, dass die zuständigen Richter bei der Entscheidung über die Verhängung des Hausarrests alle Mittel hatten, um den Extremfall der Entlassung eines hochrangigen Mafiabosses adäquat bewerten und eine wohlüberlegte Entscheidung treffen zu können. Die pauschale Annahme vieler Kritiker, Mafiabosse wären übereilt und mit laxer Überwachung in den Hausarrest geschickt worden, wo sie in Windeseile ihre Clans neu aufbauen könnten, ist demnach ungerechtfertigt. Gleichzeitig wird durch Spekulationen wie die Annahme eines neuen Abkommens zwischen Staat und Mafia ähnlich dem nach der Terrorserie in den 1990ern die Justiz delegitimiert. Mögen sich die Familien der Mafiaopfer durch die vorübergehende Entlassung der Peiniger ihrer Angehörigen auch in ihren Rechten verletzt fühlen, so sind öffentliche Anschuldigungen gegen die Justiz durch Opfervertreter oder prominente Persönlichkeiten sicher wesentlich destruktiver. Wenn die Bevölkerung der Fähigkeit des Rechtsstaats, die Mafia angemessen zu bekämpfen, grundsätzlich misstraut, wird die Antimafia-Bewegung geschwächt und die Mafia mehr gestärkt als durch die Entlassung einiger Bosse in den Hausarrest.
Natürlich gibt es auch Ansatzpunkte, die nahelegen, dass nicht bei allen Entlassungen mit der nötigen Vorsicht vorgegangen wurde und man manche Entscheidungen durchaus hinterfragen kann. Beispielsweise wurde Pasquale Zagaria, wichtiger Boss des Casalesi-Clans und bisher Insasse eines Hochsicherheitsgefängnisses im Norden Sardiniens, aufgrund einer Serie unglücklich wirkender Entscheidungen in den Hausarrest nach Brescia entlassen, eine der am stärksten von der Pandemie betroffenen Provinzen. Wie die übrigen drei entlassenen 41bis-Insassen war er schwer krank und musste sich regelmäßig im Krankenhaus von Sassari einer Chemotherapie unterziehen. Nachdem die Abteilung für Onkologie im Laufe der Pandemie ersatzlos zu einer Covid-19-Station umfunktioniert worden war, wurde um die Verlegung Zagarias in eine geeignetere Haftanstalt am Festland angesucht. Da von der Gefängnisverwaltungsbehörde keine rechtzeitige Antwort kam, fiel die Entscheidung für den Hausarrest und eine Fortsetzung der Krebstherapie in Brescia. Diese fehlende Antwort wurde später von einem Manager der Behörde in der Konfiguration des E-Mail-Systems verortet. Auch wenn Fehler in einer chaotischen Zeit wie dem Covid-19-Lockdown passieren können, ist es dennoch als kritisch zu sehen, dass der Staat den Schutz der Gesundheit von Verbrechern als dermaßen prioritär ansieht, vor allem zu einem Zeitpunkt, wo lebensrettende Therapien für Normalbürger oft nicht zugänglich waren und deshalb wohl in einer beträchtlichen Zahl von indirekten Pandemietoten resultieren werden. Auch ohne zusätzliches Aufbauschen durch die Medien könnte man das als ein sehr negatives Signal an die Gesamtbevölkerung interpretieren. Ebenso gab es Berichte von entlassenen „niederrangigen“ Mafiazugehörigen, deren Hausarrest relativ locker geregelt wurde. Im Fall von Sebastiano Giorgi, offiziell verurteilt wegen Drogen- und Waffenhandels, aber auch anerkannter Clanzugehöriger, wurde auf eine elektronische Fußfessel verzichtet und außerdem zwei Stunden Freigang am Tag genehmigt, offiziell zur Fütterung der Tiere im Stall.
Resümee einer verzerrten Debatte
Mit diesem Artikel soll demonstriert werden, wie eine Kombination aus schlechter journalistischer Arbeit, Sensationsgier und fehlender Transparenz zu einer emotionalisierten politischen Debatte und Skandalgerüchten führen konnte. Anstatt Mafiabosse zurück in die Zelle zu bringen, waren die Effekte der Entlassungsdiskussion möglicherweise wesentlich destruktiver als einzelne Fehlentscheidungen vonseiten der Gerichte. Nachdem die fehlgeleitete Berichterstattung das Vertrauen der Bevölkerung in den Rechtsstaat erschüttert hatte, wurde dieser Eindruck noch durch die Stimmen einiger prominenter Antimafia-Kämpfer verstärkt, die sogar einen neuen Kompromiss zwischen Staat und Mafia vermuteten. Während feststeht, dass die rechtliche Basis der Entscheidungen einwandfrei war und die Entlassungen nicht durch Corona-Verordnungen oder das schlecht formulierte Rundschreiben der Gefängnisbehörde bedingt waren, gibt es keine stichhaltigen Hinweise auf eine Beeinflussung der Gerichte durch den Justizminister oder gar einen neuen „patto stato-mafia“. Es sind auch keine Fälle bekannt, in denen Schwerkriminelle aus dem Hausarrest entflohen sind. Gleichzeitig blieben die großen Bosse wie Raffaele Cutolo oder Leoluca Bagarella, die ursprünglich als nächste Entlassungskandidaten stilisiert wurden, während der ganzen Zeit hinter Gittern. Was bleibt, ist ein weiterhin bedauernswerter Allgemeinzustand der italienischen Gefängnisse, der sich in Überfüllung und steigenden Suizidraten äußert.
mafianeindanke ist der Meinung, dass Transparenz und korrekte Kommunikation sowohl vonseiten der Behörden als auch der Medien der einzige Weg sind, um derart fehlgeleitete Debatten zu vermeiden. Um die Mafia wirksam bekämpfen zu können, braucht es ein breites Vertrauen in der Bevölkerung in die Wirksamkeit der Gesetze, die dem Staat dafür zur Verfügung stehen. Unüberlegte, emotionalisierte Aussagen und Verschwörungstheorien, die dem Staat ein Paktieren mit der Mafia unterstellen, schaden diesem Ziel und auch der Antimafia-Kultur im Allgemeinen. Wenn ein Richter auf Basis dieser Gesetze und nach wohlüberlegtem Abwägen einen schwerkranken Mafiaboss in den Hausarrest entlässt, sollte man diese Entscheidung akzeptieren und nicht von vornherein Korruption oder Unfähigkeit unterstellen.