Zum Scheingeständnis Nicolino Grande Aracris

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Mitte April wurde in der italienischen Presse von der Sensation berichtet, dass der hochrangige `Ndrangheta-Boss Nicolino Grande Aracri im Gefängnis die Seiten gewechselt hatte und Kronzeuge geworden war. Die Euphorie war groß: von den traditionellen Mafias ist die `Ndrangheta diejenige, über die man lange am wenigsten wusste und die historisch gesehen sehr wenige, schon gar nicht dermaßen hochrangige Kronzeugen hervorgebracht hat. Auch mafianeindanke hat die Notiz in einem Artikel widergespiegelt und auf die Deutschlandbezüge von Grande Aracri hingewiesen.

Etwas weniger als zwei Monate später stellt sich nun heraus, dass Grande Aracri wohl nie darauf abzielte, wahrheitsgemäß und umfassend auszusagen und die vermeintliche Zusammenarbeit eine Finte war. Über die Dauer von mehr als zwei Monaten war er regelmäßig verhört worden, auf weiten Strecken von Nicola Gratteri selbst, dem weithin bekannten Staatsanwalt von Catanzaro, der seit Januar 2020 den Maxiprozess Rinascita Scott mit über 350 Angeklagten in Catanzaro führt. Am Ende war es Gratteri, der vor die Presse trat und verkündete, dass die Staatsanwaltschaft die Zusammenarbeit mit Grande Aracri nicht weiterführen würde, da man ihn anhand seiner Aussagen für unglaubwürdig halte. Insbesondere wurden vermeintliche Erinnerungslücken und ein allgemein geringer Detailgrad der Erzählungen kritisiert, die so nicht der Realität entsprechen konnten. Laut Gratteri würden wahrhaftig entschlossene pentiti wie ein Wasserfall reden und dabei sehr weit ins Detail gehen, während es bei dem Boss aus Cutro angesichts seines Ranges äußerst unwahrscheinlich sei, dass er gewisse Dinge einfach nicht wisse. Insbesondere sei keine einzige seiner Rekonstruktionen nachweisbar gewesen.

Die Ausführungen Gratteris lassen den Schluss zu, dass er das gesamte Geständnis Grande Aracris infrage stellt und es für gut möglich hält, dass alles eine Inszenierung war, basierend auf der öffentlichen Berichterstattung. Nicolino Grande Aracri sei vorrangig daran interessiert gewesen, seine Frau und seine Tochter zu schützen, die in der Folge eines Ermittlungsverfahrens um ein mutmaßlich von der Mafia infiltriertes Pharmahandelsunternehmen festgenommen wurden. Ebenso wird vermutet, er habe Verdachtsmomente gegen andere Inhaftierte durch falsche Aussagen gezielt entkräften wollen.

Mit dem Ende der Zusammenarbeit wurde Grande Aracri wieder in ein Hochsicherheitsgefängnis im Norden Italiens verlegt und dort nach dem harten 41bis-Gefängnisregime eingesperrt, das während seiner vermeintlichen Kronzeugentätigkeit ausgesetzt worden war. Der Boss wurde bereits davor im Prozess Aemilia über den `Ndrangheta-Zweig in der Emilia-Romagna zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt.

Es ist nicht das erste Mal, dass sich vermeintliche Kronzeugen als unglaubwürdig herausstellen, wenngleich das meistens erst vor Gericht festgestellt wurde und nicht in den ersten Monaten nach dem Beginn der Zusammenarbeit. Unter anderem waren im Jahr 2016 mehrere Mitglieder des Mancuso-Clans, ebenfalls der `Ndrangheta zugehörig, aus demselben Grund freigesprochen worden. Mit dem Geständnis Nicolino Grande Aracris waren aber wesentlich größere Hoffnungen verbunden: in der Presse war er aufgrund seines Ranges sogar schon mit Tommaso Buscetta verglichen worden, dessen Figur zentral für den Maxiprozess gegen die Cosa Nostra in den 1980ern gewesen war.

Diese Episode zeigt auf schmerzhafte Art und Weise, dass man selbst Berichte über ausführliche Kooperation von Kronzeugen mit den Ermittler*innen stets unter den Vorbehalt stellen muss, dass sich die Aussagen am Ende mit der Wahrheit decken. Nicolino Grande Aracri hat offensichtlich geglaubt, die Ermittler würden zu siegessicher und stolz sein, um ihm dann noch genau zuzuhören, worin er sich getäuscht hat. Für die Antimafia, die sich umfassendes Wissen über die `Ndrangheta erhofft hatte, ist es ein herber Schlag, uns eingeschlossen. Und es zeigt, dass man bei der Mafia immer mit allem rechnen muss, auch dem Schlechtesten, und eine gesunde Portion Skepsis daher angebracht ist, erst recht bei allzu überraschenden Nachrichten.