„Ich wollte einfach verstehen, was Mafia ist“ – Prof. Frank Neubacher im Gespräch

Prof. Frank Neubacher

Die Universitäten sind wie ausgestorben, die Institute leergefegt und die Berichterstattung dreht sich fast ausschließlich um ein einziges Thema: das Coronavirus. Persönliche Treffen sind zurzeit nur eingeschränkt möglich. Das hindert den renommierten Professor der Universität zu Köln jedoch nicht daran, Studierenden Fragen zu beantworten. Im Forschungsthema Organisierte Kriminalität ist es nicht das erste Mal, dass Herrn Prof. Dr. Frank Neubacher Hindernisse begegnen. Der Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht und Direktor des Instituts für Kriminologie geht schriftlich auf die Fragen von mafianeindanke ein und eröffnet neue Einblicke in die Schwierigkeiten, die ihm während der Forschungsarbeit über Mafia in Deutschland begegnet sind.

mafianeindanke: In Ihrem im Jahre 2014 erschienen Aufsatz ,,Mafia und Kriminologie in Deutschland” schreiben Sie: “Ich habe es nie verstanden, wieso sich die deutsche Kriminologie – im Unterschied zu anderen Ländern – zum Thema “Mafia” so beharrlich ausschweigt und warum sie das Phänomen […] redseligen Journalisten und verschwiegenen Kriminalbeamten überlässt”. Hat sich Ihre Meinung geändert und, wenn ja/nein, warum.

Prof. Dr. Frank Neubacher: Das ist noch immer meine Meinung, denn die Situation ist unverändert. Mein Aufsatz sollte ein Weckruf sein, er blieb aber unbeantwortet. Als Wissenschaftler muss man Selbstkritik (an der Wissenschaft) üben, wenn solche „blinden Flecken“ auftauchen. Mit der Wissenschaft fehlt einfach eine sehr wichtige Stimme im öffentlichen Diskurs.

MND: Gelingt die Suche nach Material zur Organisierten Kriminalität (OK) und insbesondere zur Mafia in Deutschland gut? Sind die Behörden und insbesondere das BKA behilflich, wenn es um die Herausgabe von Informationen geht?

F.N: Von Seiten der Behörden gibt es die üblichen Publikationen, insbesondere das jährliche Lagebild „Organisierte Kriminalität“ des BKA. Darin werden auf knapp 70 Seiten die wichtigsten Eckdaten zu den Verfahren zusammengestellt, mit denen das BKA gerade befasst ist. Italienische OK-Gruppen („Mafia“) machen nur einen kleinen Teil des Materials aus. Außerdem geht es nur um jene Fälle, die bekannt geworden sind. Mehr als bei jedem anderen Kriminalitätsphänomen interessiert aber gerade bei der „Mafia“ das Dunkelfeld, also das, was den Behörden verborgen bleibt. Material, was die Polizei – wie bei den Lagebildern – für die Öffentlichkeit aufbereitet hat, gibt die Polizei gerne heraus; es steht ja für alle frei zugänglich im Internet. Darüber hinaus ist das BKA aber sehr zugeknöpft, gerade wenn es um Mafia geht bzw. um, wie es im Amt heißt, „schwere und organisierte Kriminalität“. Da lassen sie sich nicht in die Karten schauen. Deshalb ist es so schwierig zu beurteilen, wie gut die Polizei im „Kampf gegen das Verbrechen“ aufgestellt ist. Und vielleicht ist das auch ein Grund für diese Zurückhaltung.

MND: Hatten Sie jemals eine negative Erfahrung oder – besser gesagt – ist Ihre Recherche schon mal ins Stolpern gelangt, weil der Informationsfluss beschränkt wurde?

F.N: 2008 zitierte die Presse aus Anlass des ersten Jahrestags des Sechsfach-Mordes in Duisburg aus einem geheimen BKA-Bericht, der „geleakt“ worden war. Daraufhin habe ich beim Präsidenten des BKA um Einsichtnahme zu wissenschaftlichen Zwecken gebeten. Diesen Antrag habe ich sogar wiederholt, aber vergeblich. Obwohl Teile des Berichts bereits in der Öffentlichkeit kursierten, beharrte das BKA auf der Geheimhaltung und vergab damit aus meiner Sicht eine gute Gelegenheit, mit der Wissenschaft zu kooperieren.

MND: Ist es notwendig, finanzielle Hilfsmittel des Staates für akademische Arbeiten, insbesondere zum Thema Mafia in Deutschland, zu fordern?

F.N: Staatliche Finanzmittel zur Förderung der Wissenschaft sind im Grundsatz eine gute Sache, wenn die Wissenschaft selbst über die Verteilung dieser Gelder und damit auch über die Themen der Forschung entscheiden kann. Ein solches System haben wir ja mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Beim Thema „Mafia“ ist aber meines Erachtens nicht das Geld das Problem, sondern – wie wir in der Wissenschaft sagen – der Zugang zum Feld. Wie finde ich einen direkten Zugang zum Phänomen? Sind teilnehmende Beobachtungen denkbar? – Eher nicht, denn die praktischen und ethischen Probleme liegen auf der Hand! Und wie komme ich an Interviewpartner oder Teilnehmer an einer Befragung heran, sagen wir: zum Thema Schutzgelderpressung? Wie kann ich wissen, aus welchen Gründen sich potenzielle Teilnehmer beteiligen oder nicht beteiligen? Wie zuverlässig sind solche Informationen? Und bringe ich möglicherweise jemanden in Gefahr?

MND: Wieso haben Sie als Kriminologe das Thema Mafia in Deutschland als wichtig empfunden und warum haben Sie sich dazu entschieden, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?

F.N: Die Morde von Duisburg 2007 waren eine Zäsur. Danach muss die Frage für jeden lauten, warum man sich nicht damit befasst. Dass mein Interesse schon in den 1990er Jahren geweckt wurde, hat zunächst damit zu tun, dass ich mich Italien seit jeher verbunden fühle und einfach verstehen wollte, was Mafia ist. Bevor das Internet unser aller Leben verändert hat (durchaus nicht zum Schlechteren!), brachte ich aus Italien an Büchern mit, was ich kriegen konnte. Ich verstand mich dann, ich war schon in der Wissenschaft tätig, als jemand, der in Deutschland davon berichtet, was in Italien diskutiert wird. 2006 habe ich zum Beispiel für eine deutsche Fachzeitschrift eine Rezension des Buches „Gomorra“ von Roberto Saviano verfasst, als das Buch in deutscher Übersetzung noch gar nicht vorlag. Die Bedeutung und Wucht dieses Werks waren mir sofort klar.

MND: Glauben Sie, dass die Menschen von Natur aus leicht anfällig für mafiöse Einflüsse sind?

F.N: Das ist eine schwierige Frage, die ich, meiner Unsicherheit wegen und weil sie meine wissenschaftliche Expertise übersteigt, nur kurz beantworten möchte. Menschen sind prinzipiell zum Höchsten und zum Niedrigsten fähig. Aber ja, manche sind anfällig, weil sie den scheinbar bequemen Weg gehen wollen – nichts in Frage stellen, „Autoritäten“ folgen, versorgt werden. Letzten Endes fängt Korruption im Kleinen an. Wir kennen das von uns selbst, wenn wir es eines Vorteils wegen nicht so genau nehmen und unseren Grundsätzen untreu werden. Das Schlimmste dabei ist, dass wir uns gleichzeitig einreden, das Richtige zu tun.

MND: Haben Sie jemals mit einem mafioso zu tun gehabt bzw. sind Sie schon mal einem begegnet?

F.N: Nicht dass ich wüsste! 2003 habe ich Sizilien bereist. Die Mafia erschien mir da, besonders in Palermo, ganz nahe. Im Lokalradio hörte man, z.B. morgens in der Bar, Nachrichten von Schießereien, Verhaftungen, Ermittlungen. Aber gleichzeitig wusste ich, dass die Situation 10, 20 Jahre vorher schlimmer gewesen sein musste. Außerdem war die Anti-Mafia-Bewegung ungleich sichtbarer. Und in vielen Situationen war ich einfach nur Tourist und von der Schönheit der Insel und den Menschen dort so eingenommen, dass ich gar nicht an die Mafia gedacht habe.

MND: Sie thematisieren Mafia und OK in Ihren Vorlesungen. Welches Feedback erhalten Sie von den Studierenden? Zeigen sie Interesse oder empfinden sie es als ein ,,fremdes Problem”?

F.N: Die Studierenden sind sehr neugierig und fragen viel, und das ist gut so, denn Neugierde ist der Anfang aller Wissenschaft. Mehr als bei anderen Themen jedoch, wo die Studierenden eifrig diskutieren, halten Sie sich beim Thema „Mafia“ mit Meinungsäußerungen zurück. Nach meinem Eindruck spüren sie, dass ihr „Wissen“ vor allem aus Mafia-Filmen herrührt und dass das mit der gegenwärtigen Realität nicht viel zu tun hat. Durch universitäres Engagement kann auf die Mafia und deren Vorgehensweise aufmerksam gemacht werden. Wie wichtig ist die Sensibilisierungsarbeit an den Universitäten?

MND: Glauben Sie, dass es in Deutschland notwendig wäre, eine Art Beobachtungszentrum nach dem Vorbild der Statale di Milano mit Herrn Prof. Nando dalla Chiesa für OK zu gründen?

F.N: Ich halte Universitäten generell für sehr wichtig. Sie sind nach meiner persönlichen Überzeugung von überragender Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung der Studierenden (Sie merken, ich habe bewusst nicht nur von einer Ausbildungsaufgabe gesprochen). An der Uni darf und sollte über alles gesprochen werden – auch, aber nicht nur über Mafia. Ein Beobachtungszentrum ist ein reizvoller Gedanke. Ja, warum nicht? Dort könnte jene Sensibilisierungsarbeit gemacht werden, die Sie angesprochen haben. Dort könnte eine Bibliothek geführt werden. Und dort könnten auch die unterschiedlichen Akteure (Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen, Strafverfolger*innen) zusammengebracht werden.

MND: Waren bzw. sind Sie in Ihrer Recherche über die Mafia in Deutschland alleine?

F.N: Bitte überschätzen Sie mich nicht. Ich bin nicht ganz allein und beschäftige mich eher nebenbei mit organisierter Kriminalität. Mein Hauptarbeitsgebiet als Wissenschaftler ist die Strafvollzugsforschung. Aber wie sagt man? – „Unter Blinden ist der Einäugige König.“

MND: Wie stark beeinflusst die akademische Arbeit die aktuellen politischen Entwicklungen?

F.N: Beim Thema „Mafia“ gibt es diesen Einfluss in Deutschland nicht, weil es die entsprechende akademische Arbeit nicht gibt. Ansonsten ist der Einfluss der Kriminologie auf die Kriminalpolitik schwach bis nicht vorhanden. Es ist ein Irrglaube zu meinen, dass Politik tut, was Wissenschaft empfiehlt (vorausgesetzt die Wissenschaft ist sich überhaupt einig). In der gegenwärtigen Corona-Krise wird wieder stärker auf die Wissenschaft gehört. Das macht Mut und gehört hoffentlich zu jenen Dingen, die in der Zeitrechnung nach Corona bleiben.

MND: Auf einer Skala von 1 (,,gar nicht gewappnet”) bis 10 (,,total gewappnet”), wie gewappnet würden Sie das “Rechtssystem Deutschland” für die Mafia einstufen? Ist Deutschland “fruchtbares Land” für mafiosi?

F.N: Man sollte sich nie sicher sein – deshalb eine „7“. Aus den Lageberichten des BKA ist zu ersehen, dass Fälle, in denen die organisierte Kriminalität Polizei, öffentliche Verwaltung oder die Justiz beeinflusst hat oder zu beeinflussen versucht hat, selten sind. Ein sehr wichtiges Thema, nicht nur mit Blick auf die Mafia, ist die Geldwäschebekämpfung. Aber hier gilt wie auch sonst: Gesetze sind nicht alles, sie müssen durchgesetzt werden, und hierfür braucht man auf der Umsetzungsebene eine hinreichende Zahl gut ausgebildeter Fachleute.

MND: Stünde Ihnen jedes Material zur Verfügung und gäbe es keinerlei Hindernisse jeglicher Art, an welchem Aufsatz/Buch/Kommentar ecc. würden Sie sofort anfangen zu arbeiten?

F.N: Tatsächlich würde ich gerne ein Buch über die Mafia schreiben. Das müsste aber wissenschaftlichen Kriterien genügen und gleichzeitig für eine breitere Öffentlichkeit interessant und gut zu lesen sein. Vor etwa 10 Jahren war ich nahe dran, habe dann aber die Arbeit an einem solchen Buch abgebrochen. Ich fühlte mich einfach nicht wohl dabei, weil ich zwar die gesamte Literatur überblickte, aber keinen eigenen empirischen Zugang hatte (wie z.B. durch spezielle Daten, Interview- oder Aktenmaterial). Chissà – forse un giorno.

MND: Könnten Sie den Lesern eine gut gelungene akademische Arbeit über die Mafia in Deutschland empfehlen? Haben Sie eine Leseempfehlung für den Einstieg in die Thematik ,,Mafia in Deutschland”?

F.N: Sie bringen mich in Verlegenheit. Ich wüsste einige Bücher über Italien zu nennen, aber für Deutschland fällt mir keines ein. – Wäre das nicht ein schönes Dissertationsthema für Sie?