Der italienische Antimafia-Paragraf wird 40

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Das Jahr 2022 markiert den Jahrestag vieler Ereignisse, die die Geschichte der Antimafia geprägt haben. Unter diesen ragt der Jahrestag der Verabschiedung des Rognoni-La Torre-Gesetzes heraus, in dem mit dem Paragraphen 416-bis der Straftatbestand der mafiösen Vereinigung und die Einziehung von Vermögenswerten illegaler Herkunft in das italienische Strafgesetzbuch eingeführt wurde. Das Gesetz stellt eine der einschneidendsten und entschiedensten Maßnahmen im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen dar.

Auch heute noch ist dies eine Besonderheit des italienischen Rechtssystems: In anderen Ländern der Welt gibt es keine Vorschriften, die die Zugehörigkeit zu explizit mafiösen Organisationen unter Strafe stellen. Es stellt sich daher die Frage: Warum werden solche Gesetze nicht auch in anderen Rechtssystemen adaptiert, insbesondere in Deutschland, wo die Mafia weitgehend ungestört agiert?

Um diese und andere Fragen zu beantworten, muss man zunächst den historischen Prozess kennen, der zur Notwendigkeit dieses Gesetzes in Italien geführt hat.

Das Gesetz und sein historischer Kontext

1982 erlebt Sizilien Momente höchster Anspannung: Der zweite Mafiakrieg hatte begonnen. Die Ermordung des Chefs Stefano Bontate ist der Auslöser eines Konflikts, der von 1981 bis 1984 andauert.

Die Cosa Nostra wird im Innern von neuen Strömungen und neuen Paten erschüttert: Der Clan der Corleoneser, der von Bernardo Provenzano, Leoluca Bagarella und vor allem Totò Riina angeführt wird, erringt mit Gewalt die Vorherrschaft über die Insel. Durch barbarische Handlungen, Bestialität und Brutalität wurden mehr als 500 Menschen getötet. Unter anderem  werden auch Vertreter des Staates wie Piersanti Mattarella (Präsident der Region Sizilien), Emanuele Basile (Carabinieri-Offizier), Gaetano Costa (Richter) und Vito Lipari (Politiker) ihr Leben verlieren.

Als Reaktion darauf gründete Rocco Chinnici im Bildungsamt von Palermo den „Anti-Mafia-Pool“: Zum ersten Mal in der Welt schloss sich eine Gruppe von Richtern und Staatsanwälten im Kampf gegen das Verbrechen zusammen. Auch in den Hallen der italienischen Politik gab es eine Veränderung im Umgang mit dieser sozialen Geißel. Und nicht nur das: Zum ersten Mal wurde der Cosa Nostra der Schleier des Schweigens genommen, der sie jahrelang umhüllt hatte: Die ersten Zeugen und Justiz-Kollaborateure kamen ans Licht. Zum ersten Mal wird das Ungeheuer in allen Einzelheiten beschrieben.

Damit beginnt sich in Italien ein Bewusstsein zu festigen: Die Mafia existiert! Sie wird nicht mehr als eine Gruppe von „armen Bauern“ gesehen, die sich zufällig zusammenfinden, sondern als eine organisierte, bis ins kleinste Detail strukturierte Verbrecherorganisation. Zum ersten Mal wird dem Wort „Kriminalität“ das Attribut „organisiert“ beigefügt, um auf ein Phänomen hinzuweisen, das alles andere als trivial ist, wie man es bis vor einigen Jahren dachte.

In diesem blutigen Kontext wurde das Gesetz „Rognoni – La Torre“, benannt nach dem damaligen Innenminister Vittorio Rognoni und dem Politiker und Gewerkschafter Pio La Torre, vorgelegt und anschließend verkündet. Mit diesem Gesetz wurde der Artikel 416-bis in das Strafgesetzbuch eingefügt: Zum ersten Mal wurde der Begriff der mafiösen Vereinigung definiert und unter Strafe gestellt. „Die Vereinigung ist mafiös, wenn diejenigen, die ihr angehören, die einschüchternde Kraft der Bindung an die Vereinigung, die Notwendigkeit der Unterwerfung (Anm.: gegenüber der Organisation) und das Schweigegebot, das sich daraus ergibt, ausnutzen (…), um sich oder anderen ungerechtfertigte Gewinne oder Vorteile zu verschaffen“ (Art. 416-bis Abs. 3 des Strafgesetzbuches).

Von diesem Zeitpunkt an ist die Zugehörigkeit zur Mafia ein Verbrechen.

Der Kampf gegen die Cosa Nostra

Zwar zielt Artikel 416-bis darauf ab, alle Organisationen zu bekämpfen, „die unter Ausnutzung der Bindung an die Vereinigung Ziele verfolgen, die denen mafiöser Vereinigungen entsprechen“, doch ist zu betonen, dass das Hauptziel zum Zeitpunkt der Schaffung dieses Artikels der Kampf gegen die damals mächtigste Mafia Italiens war: die Cosa Nostra.

Die Ursprünge der Cosa Nostra liegen im 19. Jahrhundert im ländlichen Sizilien. Im Jahr 1861, dem Jahr der Vereinigung Italiens unter der Führung von Giuseppe Garibaldi, war der Süden ein sehr armes Gebiet. Die Zustimmung gegenüber Garibaldis Truppen war gering, und so begann sich das System der Mafia zu behaupten: Eine Alternative zum entstehenden italienischen Staat. Aus gewalttätigen lokalen Landbesitzern wurde eine echte kriminelle Organisation mit eigenen Legenden, Mythen und einer eigenen Sprache.

Dann kamen die Jahre des Faschismus, als der Staat beschloss, hart gegen die Mafia vorzugehen. Mussolini und seine Berater schickten die Mafiosi an die Front oder an ferne und abgelegene Orte; viele Sizilianer flohen daraufhin aus Italien ins Ausland auf der Suche nach Glück und Entschädigung. Diese Zeit wird sich als sehr unterdrückend für das kriminelle System erweisen. In der Folge wird es jedoch wieder dadurch gestärkt werden, dass die Exilanten es nutzen, um sich in die legale Wirtschaft der jeweiligen Länder einzuschleusen. In der Tat sehen viele Wissenschaftler in der faschistischen Aktion den Keim für die Verbreitung der Mafia in ganz Italien und der Welt.

Der Krieg endet, Italien ist befreit, aber von Trümmern und Tod zerrissen. Die Cosa Nostra sieht eine einmalige Gelegenheit, ihre Gewinne enorm zu steigern: Sich Aufträge zum Wiederaufbau ganzer Städte zu sichern. Das bedeutete nicht nur, sich enorm zu bereichern, sondern auch, ihre Herrschaft über das Gebiet zu behaupten. Und nicht nur das: Die Mafia sicherte in der Wirtschaft eine beherrschende Stellung als Alternative zu einer langsamen und missbräuchlichen staatlichen Bürokratie.

In den 1960er- und 1970er-Jahren rückt der Blick auf dieses kriminelle System in den Mittelpunkt: Die ersten Prozesse beginnen. Der Ausgang dieser Prozesse stand jedoch immer von vornherein fest: Die Mafiosi kamen fast immer ungeschoren davon, da es kein Gesetz gab, das den Straftatbestand der mafiösen Vereinigung vorsah. Die Bosse der Unterwelt bleiben ungestraft und feierten. Außerdem hatten die Vorschriften des Strafgesetzbuchs über Mord, Drogenhandel und Waffenbesitz keine großen Auswirkungen auf die Organisationen: Die großen Bosse konnten zwar in kurzer Zeit ausgetauscht werden, aber das Vermögen, der Reichtum eines Clans, der den eigentlichen Lebensnerv des gesamten Systems darstellte, blieb immer erhalten.

Mit Geld konnten kriminelle Organisationen Politiker, Journalisten und Richter kaufen. Daher ist eine Gesetzgebung erforderlich, die den Mafias den Reichtum entzieht und dadurch ihrer wirtschaftlichen Stärke beraubt.

An dieser Stelle fügt sich das Gesetz Rognoni-La Torre, das am 13. September 1982 verkündet wurde und mit dem Artikel 416-bis in das Strafgesetzbuch eingeführt wurde, in die Geschichte der Verbrechensbekämpfung ein. Der Artikel sieht den Straftatbestand der mafiösen Vereinigung sowie die Beschlagnahme von Vermögenswerten illegaler Herkunft vor.

„Es ist immer zwingend erforderlich, die Dinge einzuziehen, die der Begehung der Straftat dienten oder dazu bestimmt waren, sowie die Dinge, die den Preis, das Produkt, den Gewinn oder die Verwendung darstellen“.

Das Gesetz dringt dadurch in das Herz der kriminellen Organisationen ein: ihr Vermögen. „Es gibt nichts Hässlicheres als die Beschlagnahme von Vermögenswerten“, erklärte Francesco Inzerillo, selbst Chef der Cosa Nostra.

Bis heute spielt dieses Gesetz eine grundlegende Rolle bei der Verbrechensbekämpfung. Das Rognoni-La Torre-Gesetz ermöglichte (und ermöglicht) die Inhaftierung zahlreicher Straftäter und die Beschlagnahme illegaler Erträge aus der Mitgliedschaft in kriminellen Vereinigungen.

Das Rognoni-La Torre-Gesetz in Deutschland?

Mafias sind und arbeiten wie echte multinationale Unternehmen. Im Gegensatz zu anderen Unternehmenstypen haben kriminelle multinationale Unternehmen jedoch ein festes Modell, das sie in jedes Land exportieren, aber gleichzeitig passen sie sich an die Realität an, in der sie sich niedergelassen haben: Sie ändern sich in den Inhalten, bleiben aber in der Substanz gleich.

In Deutschland, wie auch im übrigen Europa, hat das Organisierte Verbrechen in rechtlicher Hinsicht eine weniger erdrückende Realität vorgefunden als in Italien: Das Organisierte Verbrechen wächst und gedeiht. In Deutschland konnte sich die Mafia über viele Jahrzehnte hinweg ungestört etablieren und agieren, ohne Aufsehen zu erregen. Es gibt immer noch kein klares Verständnis des kriminellen Systems in diesem Land. Zu oft wird dieses als ein Problem betrachtet, das außerhalb und nicht innerhalb der eigenen Grenzen zu suchen ist. Dadurch ist die Mafia in Deutschland bereits tief verwurzelt, wie mafianeindanke immer wieder anmerkt. Giorgio Basile, ein mit den Justizbehörden zusammenarbeitender Mafioso, sagte in einem Interview wenige Tage nach dem Massaker von Duisburg (2007) sogar: „Die Deutschen müssen ein für alle Mal davon überzeugt werden, dass es überall, wo es eine Pizzeria gibt, auch die Mafia gibt“. Tatsächlich gibt es auch in Deutschland ehrliche Angestellte und Betreiber von italienischen Lokalen, die sich von dem kriminellen Phänomen distanzieren und eine solide Basis für den Kampf gegen die Mafia darstellen. Dies ist der Kontext, in dem unter anderem mafianeindanke geboren wurde. Es gibt jedoch eine Reihe von Lokalen und Unternehmen, letztere unter anderem in der Lebensmittelbranche, die von Kriminellen genutzt werden, um ihr illegales Einkommen zu „waschen“.

Pio La Torre war einer der ersten, der das Problem erkannte. Um einen Durchbruch im Kampf gegen kriminelle Vereinigungen zu erzielen, war es unabdingbar, deren angehäuften Reichtum und Vermögen anzugreifen: Dieses zu entziehen bedeutet, die kriminellen Vereinigungen zu schwächen, ihr Ansehen und ihre Macht zu schmälern. Nicht nur. Seiner Intuition ist es zu verdanken, dass die Verfahren nun weitergeführt werden konnten, weil die Zugehörigkeit zum Mafia-System endlich als Verbrechen angesehen wurde. Es ist kein Zufall, dass der größte Prozess gegen die Mafia 1986 begann, vier Jahre nach der Verabschiedung dieses Gesetzes.

Da die Mafia zunehmend international agiert, gibt es immer wieder Stimmen, die aufgrund der Bedeutung des Artikel 416bis die Einführung eines ähnlichen Gesetzes auch in anderen Ländern fordern, was seit 1982 allerdings nie geschehen ist. Auch im deutschen Kontext mag ein derartiger Plan auf den ersten Blick attraktiv erscheinen, die reale Situation ist allerdings – selbst wenn man Hürden bei der Umsetzung im deutschen Rechtsrahmen beiseite lässt – deutlich komplizierter.

Ohne Kenntnis des Mafia-Phänomens hat das Gesetz keine Wirkung

Grundsätzlich können Zielrichtung und einzelne Regelungsinhalte des Rognoni-La Torre-Gesetzes nicht effektiv „internationalisiert“ werden, ohne zuvor im Zielgebiet ein Bewusstsein für das Phänomen zu schaffen, das durch das Gesetz bekämpft werden soll. Eine gesetzgeberische Maßnahme wäre nutzlos, wenn sie nicht von einer sozialen, politischen und polizeilichen Struktur begleitet würde, die in der Lage ist, gemeinsam zu handeln.

Bevor die Zugehörigkeit zur Mafia unter Strafe gestellt werden kann, ist es unerlässlich, Grundvoraussetzungen zu schaffen, einen fruchtbaren Boden, auf dem die ersten Anti-Mafia-Pflanzen wachsen können. Es ist notwendig, dass sich in der Bevölkerung ein Gefühl für ein „gemeinsames Problem“ ausbreitet, mit dem man sich ernsthaft auseinandersetzen muss, weil es unglaublich nah an unserem täglichen Leben ist. Es gibt keinen „Kampf“ ohne Organisation, Kultur und Kollektivgefühl. Und vielleicht muss man daran zweifeln, dass es in Deutschland eine solche Sensibilität für dieses Thema gibt.

Deutschland muss nicht den Artikel 416-bis übernehmen, kann aber viel von Italien lernen

Heute ist Deutschland ein fruchtbarer Boden für das Organisierte Verbrechen in Europa. Vor allem die ‘Ndrangheta hat sich stark verwurzelt und ihre Gewinne gesteigert.

Abgesehen von den gesetzlichen Einschränkungen ist der Rat von mafianeindanke eindeutig, den Kampf gegen Geldwäsche und Organisierte Kriminalität und Geldwäsche zu stärken. Hierzu haben wir einen umfangreichen Forderungskatalog in Form einer Broschüre ausgearbeitet, der von unserer Website heruntergeladen werden kann.

In der Praxis wäre es viel zu oberflächlich, die Einführung des Artikel 416 bis in Deutschland pauschal zu empfehlen oder davon abzuraten, da die rechtliche Umsetzbarkeit offen ist. Daher ist es grundsätzlich fraglich, ob ein dezidierter Anti-Mafia-Paragraph überhaupt in das deutsche Rechtssystem transponiert werden kann. Was außer Zweifel steht, ist, dass der rechtliche Rahmen gegen alle Formen der Organisierten ‚Kriminalität zweifellos gestärkt werden sollte. Dazu gehört auch, genauere Schätzungen und Analysen der durch die Kriminalität in Deutschland erzielten illegalen Gewinne vorzunehmen. Es würden Ermittlungen über den Lebensstandard, das Vermögen und die finanziellen Mittel aller Personen, die diesen Vereinigungen nahestehen, sowie ihrer Familienangehörigen und Lebensgefährten eingeleitet. Darüber hinaus würden auch juristische Personen oder bestimmte Einrichtungen dieser Art von Kontrolle unterworfen, was zu einer größeren Transparenz im privaten und öffentlichen Sektor beitragen würde.

Darüber hinaus würde das Wachstum und die Entwicklung des Regulierungsapparates gegen dieses Phänomen auch zu differenzierteren Daten der deutschen Justiz- und Polizeibehörden führen, die die Zusammenarbeit mit anderen Ländern erleichtern könnten.

Nicht zuletzt könnten die beschlagnahmten Vermögenswerte dann den lokalen Akteuren zur Verfügung gestellt werden. Die Schaffung sozialer Organisationen und Strukturen, die die der Kriminalität entzogenen Mittel zur Schaffung öffentlicher und volksnaher Projekte nutzen, ist der größte Sieg, der in diesem Kampf errungen werden kann. Denn es reicht nicht aus, das Phänomen nur auf Prävention, Gesetzgebung und strafrechtliche Maßnahmen zu beschränken, sondern es bedarf auch einer Reaktion der umliegenden Zivilgesellschaft. Dies könnte zur Bildung von Vereinigungen wie „Libera“ in Italien führen, die sich mit Hilfe des Engagements zahlreicher Freiwilliger, meist junger Menschen, mit der Rückgewinnung und Umstrukturierung des Eigentums von Straftätern befassen. Eine solche Planung gibt es derzeit in Deutschland nicht.

Vor allem aber müssen wir uns verbünden und uns gegenseitig unterstützen gegen diese soziale Geißel, die sich immer schneller ausbreitet und bereichert, ohne in den Institutionen einen würdigen Gegner zu finden, der ihnen entschlossen entgegentritt. Deshalb ist es notwendig, durch den Austausch von Erfahrungen, Geschichten und auch Gesetzen ein größeres Bewusstsein für das Phänomen Mafia in Deutschland zu schaffen, wie es mafianeindanke seit seiner Gründung im Jahr 2007 tut. Mafianeindanke kann aber nur dann ein zentraler Faktor in diesem Kampf sein, wenn die bisherigen großen Anstrengungen in Zukunft finanziell besser unterstützt werden. Dies ist eine Aufforderung an alle, denn ohne einen sozialen Antrieb, ohne den Wunsch nach Veränderung, wird Deutschland gegenüber der Organisierten Kriminalität blind bleiben.

Autor: Alessandro Sorrenti

Eine umfassende und detaillierte Studie mit Vorschlägen für Verbesserungen der Rechtslage  in Deutschland, um den Kampf gegen Mafia und Organisierte Kriminalität schlagkräftiger zu führen, finden Sie hier zum Download.