„Unglücklich das Land, das keine Helden hat … Nein.
Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“
(Bertolt Brecht)
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat vor wenigen Jahren eine post-heroische Gesellschaft in Europa diagnostiziert. In demokratischen Rechtsstaaten, die kriegsavers agieren, braucht es immer weniger von denen, die sich bis aufs Äußerste einsetzen, nämlich unter Einsatz ihres Lebens. Dabei gibt es sie in Italien noch und ihre Arbeit ist wichtiger denn je. Die Rede ist von den Staatsanwälten der Magistratura, die sich in den italienischen Regionen dem Kampf gegen die Mafia verschrieben haben. Einer von ihnen ist Nicola Gratteri. Aber ist der Begriff des Helden nicht irreführend? Ist nicht schon oft genug in Unrechtststaaten ein sinnloses Aufopfern als Heldentum gefeiert worden? Versuchen wir eine möglichst neutrale Definition. Ein Held zeichnet sich durch (1) ausgezeichnete, mutige und entschiedene Handlungen aus, (2) in einem widrigen Umfeld, (3) an einem öffentlichen Wahrheitsbegriff orientiert, der eine ehrbare Haltung demonstriert, (4) wobei der Erfolg oder das Scheitern nichts über den Heldenstatus aussagt (im griechischen Theater gibt es die Tragödie und die Komödie). Erfüllt Nicola Gratteri diese Kriterien?
1- Handlungen
Der Kopf hinter der dem Einsatz „Operazione Stige/ Operation Styx“, der im Januar zu 169 Festnahmen und konfiszierten Gütern im Wert von 50 Millionen Euro führte (wir berichteten, auch, dass sich einige von ihnen in Deutschland aufhielten), war Gratteri. Für die Arbeit von mafianeindanke ist er eine wichtige Figur, weil er einer der ersten war, der darauf aufmerksam gemacht hat, dass die ‘Ndrangheta sich mittlerweile zu einem global tätigen Unternehmen entwickelt hat, die auf allen Kontinenten aktiv ist. Er war es, der ermittelte, dass 80 Prozent des Kokainhandels in Europa nun über die Ndrangheta laufen. Er untersuchte die Reaktionen auf das Blutbad von Duisburg vor 11 Jahren und fand heraus, dass die Mafia dieses im Nachhinein als Fehler einschätzte. Die blutigen Fehden sollten zukünftig wieder in San Luca ausgetragen werden. In jüngster Zeit sieht er mit Sorge eine wachsende Unterwanderung des Staates durch die Mafia. Durch das Kokaingeld habe sie kein Problem in die entscheidenden Posten der Verwaltung zu gelangen oder diese zu schmieren.
2- in einem widrigen Umfeld
Der 59 jährige Kalabrese trat schon kurz nach seinem Studium der Rechtswissenschaften der Magistratur der kalabrischen Staatsanwaltschaften bei. Seitdem widmet er sich dem Kampf gegen die italienische organisierte Kriminalität. Seit nunmehr fast 30 Jahren lebt er unter Polizeischutz. Das bedeutet nicht einfach nur, dass er bei öffentlichen Veranstaltungen Sicherheitspersonal bekommt. Polizeischutz heißt im Fall der Mafia-Staatsanwälte in Italien eine Rund-um-die-Uhr Bewachung. Gratteri hat Familie, liebt das italienische Essen und seine Region. Es ist dennoch schwer vorstellbar, welchen Preis er für seine Arbeit bezahlt. Die Privatsphäre, die als Menschenrecht geschützt ist, wird in seinem Fall für das größere Ziel hinten angestellt. Notwendig scheint sie leider tatsächlich zu sein: Zwei mal ist er schon Anschlägen entgangen. Die Liste der Staatsanwälte, die sich mit der Mafia anlegten, liest sich wie ein trauriges Zeugnis von Schicksalen, die für diesen Einsatz mit dem Leben bezahlt haben – Gratteri indes scheint davon nicht in seinem Eifer zurückzuschrecken. Auf die Frage, ob es nicht zu viel verlangt sei das Risiko einzugehen von der Mafia mit dem Tode bedroht zu sein, lautet seine Antwort kurz und knapp: „Alles im Leben hat ein Risiko“. Die Einsätze werden aus Cantanzaro koordiniert, einem Städtchen an der Südseite der kalabrischen Stiefelspitze. Abseits der großen Städte arbeitet Gratteri hier mit seinem Team an den nächsten Schritten gegen das Organisierte Verbrechen in Kalabrien, sowie im Ausland, wohin auch immer die Kraken der Ndrangheta reichen.
3-Öffentlichkeit und Haltung
Sein Stil ist hierbei ruhig, besonnen und aufrichtig. Er selbst sagt in einem Interview, dass es die ehrlichen Fakten und Recherchen braucht um der Mafia beizukommen. Die schrillen und lauten Töne sind es nicht, die dem Magistraten Gratteri dafür dienlich sein können. Seine Auftritte in der Öffentlichkeit und im Fernsehen sind gespickt von lakonischen Kommentaren. Große Hoffnungen liegen auf diesen Procuratori Antimafia. In der Öffentlichkeit werden sie bewundert und als moderne Helden gesehen. Die jahrelange Frustration der Bevölkerung mit Korruption und Mafia weisen den Staatsanwälten einen quasi heilbringenden Status und allgemeine Bekanntheit zu, die mit denen in Deutschland nicht vergleichbar sind. Dies stellt freilich auch einen Nachteil dar. Überzogene Erwartungen und Idealisierungen sind anfällig für Enttäuschungen. Die Protagonisten sind immer auch in einen Kontext verstrickt, ganz konkret: Die Arbeit von Gratteri ist immer auch abhängig von der Bewilligung von Mitteln, der öffentlichen Unterstützung und vielen weiteren Faktoren.
Doch es sind nicht nur die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die Gratteris Alltag prägen. Als Autor von zahlreichen Büchern sieht er seine Aufgabe auch darin, durch Öffentlichkeitsarbeit der Rekrutierung der Mafia vorzubeugen. Er sieht seine Profession in der Pflicht, als Botschafter der Antimafia zu wirken und im Kontakt mit vor allem jugendlichen Kalabresen die Einsicht in Schädlichkeit der mafiösen Strukturen zu bewirken. Er geht in die Schulen und zeigt dort, dass der Reichtum auch innerhalb der Ndrangheta sehr ungleich verteilt ist. Auch ohne ein moralisches Argument versucht er so davon zu überzeugen, dass z.B. das Arbeiten als Drogendealer für die Heranwachsenden nicht lohnend ist, da die Chancen an Wohlstand zu kommen auch nicht vergrößert werden. In einer Region wie Kalabrien, die eine der ärmsten ganz Europas ist, ein entscheidendes Argument.
Zwischenzeitlich wurde Gratteri schon als möglicher Justizminister gehandelt. Es geht das Gerücht um, dass nur ein Anruf des damaligen Präsidenten Napoletano dies verhinderte. Seine Forderungen an die Politik trägt er unverändert vor: Beschleunigung der Strafprozesse durch Digitalisierung, damit die Verschleppung der Urteilssprüche bis hin zu Verjährungen nicht mehr so leicht möglich ist. Größere Kohärenz in der Strafverfolgung, indem die institutionellen Einheiten verzahnter arbeiten. Hierbei kritisiert Gratteri auch öffentlich Figuren wie den Innenminister Marco Minniti, von dem er sich ein klares Statement nach dem Stige-Einsatz gewünscht hätte. Ebenso richtet er seinen Blick ins Ausland. Deutschland wirft er vor, immer noch nicht erkannt zu haben, wie weit die italienische Mafia und besonders die Ndrangheta ihre Verbindungen schon gedeihen lassen konnten. Dabei kritisiert er -wie viele andere Mafiaexperten- die Strafverfolgung, die keine Beweislastumkehr zulässt. Er hat schon viele Netzwerke der kalabrischen Mafia aufgedeckt, die bis nach Kanada reichen. Ein Land, das im Allgemeinen nicht mit italienischer organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht wird.
4– nicht der Erfolg entscheidet
Gratteri ist zweifelsfrei ein Held. Wenn dieser Begriff sinnvoll sein soll, dann muss er für Menschen wie ihn angewendet werden, die sich, aller Widrigkeiten zum Trotz, dem Kampf gegen die Mafia verschrieben haben. Hoffen wir, dass er sich nicht in die Reihe der tragischen Helden stellt, die am Ende scheitern, sondern dass die Gemeinschaft irgendwann diese Helden nicht mehr brauchen wird. Denn es verlangt immer nur dann nach einem Helden, wenn etwas im Argen liegt. Sein Anliegen sollte man bei der Betrachtung von Gratteri nicht vergessen: Es geht am Ende nicht um ihn, sondern um uns.
“Je mehr Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.”
(Franca Magnani, Journalistin)