Amtsmissbrauch – ein unterschätztes Verbrechen

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Im Sommer 2024 erlebten Deutschland und Italien bemerkenswerte, jedoch gegensätzliche Entwicklungen in ihren strafrechtlichen Systemen. Während Deutschland am 18. Juni mit der Einführung des § 108f StGB einen Fortschritt erzielte, indem die „unzulässige Interessenwahrnehmung“ durch Mandatsträger:innen strafbar gemacht wurde, entschied sich Italien am 10. Juli für einen kontroversen Schritt in die entgegengesetzte Richtung: Die italienische Abgeordnetenkammer schaffte den Straftatbestand des sogenannten Abuso d’ufficio (ehemaliger § 323 des italienischen StGB) ab. Dieser Gegensatz verdeutlicht die unterschiedlichen Herangehensweisen der beiden Länder im Kampf gegen Missbrauch und Korruption im öffentlichen Amt.

Bausünden, Korruption und mafiöse Verstrickungen. Wie eine Strafrechtsreform zu Amtsmissbrauch in Italien dem organisierten Verbrechen Tür und Tor öffnet.

In der italienischen Senatskammer war die Abstimmung über das sogenannte „Ddl Nordio“-Gesetz (Ddl = disegno di legge, Gesetzentwurf) ein wichtiger Schritt in der lang erwarteten und vom Justizminister Nordio (Fratelli d’Italia) angekündigten Strafrechtsreform. Mit 99 Ja-Stimmen der rechten Mehrheit und der Parteien Azione und Italia Viva und 50 Nein-Stimmen des Partito Democratico (PD), Movimento 5 Stelle (M5S) und der Links-Grünen wurde Artikel 1 der Maßnahme angenommen: die Aufhebung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs, der in Artikel 323 des italienischen Strafgesetzbuchs vorgesehen ist. Diese Entscheidung hat für Kritik gesorgt. Expert:innen auf diesem Gebiet befürchten, dass hierdurch neue Räume der Straflosigkeit geschaffen werden, der Kampf gegen das organisierte Verbrechen erschwert wird und Konflikte mit dem europäischen Recht entstehen könnten.

Aber fangen wir von vorne an: Was sieht die Ddl Nordio-Novelle vor?

Artikel 323 des Strafgesetzbuches besagt, dass ein Beamter oder eine Person, die für einen öffentlichen Dienst verantwortlich ist, strafbar ist, wenn er oder sie in Ausübung seines oder ihres Amtes einen finanziellen Schaden oder einen Vorteil verursacht, der dem Gesetz zuwiderläuft. Eine Person, die die eigenen Interessen oder die ihres Verwandten ihrem politischen Handeln grundlegt, macht sich ebenfalls strafbar. Bis zur Aufhebung des Artikels war eine Strafe von einem bis vier Jahren Haft vorgesehen.

Die Bedeutung dieses Artikels wurde auch durch die Änderungen unterstrichen, die das 2012 verabschiedete Severino-Gesetz mit sich brachte. Es zielte darauf ab, Korruption und Illegalität in der öffentlichen Verwaltung zu verhindern und zu bekämpfen. Zu den Maßnahmen gehörten die Unwählbarkeit von Personen mit rechtskräftigen Verurteilungen von mehr als zwei Jahren und die Amtsenthebung von Mandatsträger:innen, die verurteilt worden waren.

2020 gab es jedoch bereits eine wesentliche Änderung durch das Vereinfachungsdekret Artikel 23, Gesetzesdekret Nr. 76/2020, mit dem die wirtschaftliche Erholung des Landes nach dem Produktionsstopp aufgrund der Pandemie gefördert werden sollte. Zuvor reichte es aus, gegen eine Verordnung zu verstoßen, um eine Straftat zu begehen, während es nun notwendig ist, gegen eine ausdrücklich im Gesetz oder in einem rechtskräftigen Gesetz festgelegte Verhaltensregel zu verstoßen, was einen Ermessensspielraum ausschließt. Trotz der Änderung der Vorschriften im Jahr 2020 wurde in der politischen Debatte – insbesondere von den rechten Parteien – immer wieder die vollständige Abschaffung des Straftatbestands gefordert. Nur so könne eine „defensive Verwaltung“ verhindert werden. Denn Beamt:innen lassen teilweise eine übermäßige Vorsicht walten, die zu einer Lähmung der Entscheidungsfindung führen kann, eben aus Angst, einer strafrechtlichen Untersuchung ausgesetzt zu werden.

Obwohl es bislang wenige Verurteilungen wegen Amtsmissbrauchs gab, rufen langwierige Ermittlungen und damit verbundene Medienkampagnen häufig irreversible Schäden für die Betroffenen hervor. Denn oft zeigen Justiz und Öffentlichkeit wenig Respekt für die Unschuldsvermutung. Würde die Justiz schneller und effizienter unbegründete Anzeigen archivieren, könnte sie das Problem an der Wurzel packen. Die verzögerte Archivierung von Akten lähmt Büros, und in einem ineffektiven System schlagen einige die Beseitigung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs vor.

Das Ddl Nordio bedeutet also einen klaren Einschnitt, der vor allem von den Stimmen einer rechten Partei getragen wird, die ihn als Sieg der Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit feiern. Er führt jedoch zu einer radikalen Änderung der Perspektive auf das Verbrechen des Amtsmissbrauchs. Artikel 1 des Ddl schlägt die vollständige Aufhebung von Artikel 323 des Strafgesetzbuches vor, eine abolitio criminis, die auch noch nicht abgeschlossene Verfahren beeinträchtigen könnte.

M5S-Senator Roberto Scarpinato, ein ehemaliger Anti-Mafia-Richter, war einer der Hauptgegner der Aufhebung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs[1]: Er betonte, dass dieses Verbrechen eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des Machtmissbrauchs spielt, und wies darauf hin, dass dessen Abschaffung Straffreiheit und klientilistische Praktiken begünstigen könnte. Laut Scarpinato ist Amtsmissbrauch „keineswegs nur ein Spionageverbrechen, wie die 3.600 rechtskräftigen Verurteilungen zeigen“. Und wie der ehemalige Anti-Mafia-Richter hinzufügt, „ist die Omertà der Wirtschaftskriminellen in Bezug auf Korruption und ihre schmutzigen Geschäfte noch eiserner als die der Mafiosi. Die einzige Achillesferse sind die Abhörmaßnahmen, die nicht zufällig zur Obsession dieser Mehrheit geworden sind, weil sie es ermöglichen, Verbrechen aufzudecken und eine politische Welt zu entlarven, die weitgehend zu einem Treibriemen für die Interessen der Wirtschaftsausschüsse geworden ist.“

Er verwies unter anderem auf die Auswirkungen im Baugeschäft auf Sizilien. „Die bauliche Plünderung von Palermo, die die Mafia bereichert und die Stadt verwüstet hat, wurde gerade dank des serienmäßigen Amtsmissbrauchs mit der Erteilung von Tausenden von unrechtmäßigen Baugenehmigungen und Varianten zu den Regulierungsplänen durchgeführt. Die Staatsanwälte von Palermo und Rom wiesen darauf hin, dass die ‘Mafiakorruption’ konstant bleibt. Das Verbrechen“, so Scarpinato weiter, „betrifft nicht nur die Bürgermeister, sondern eine große Anzahl von öffentlichen Verwaltern und Verantwortlichen für öffentliche Dienstleistungen.“

Scarpinato ist nicht die einzige Stimme aus dem Chor, es gibt viele Kritiken der Opposition an dem oben genannten Dekret: Der Partito Democratico argumentiert, dass das Gesetz einer „Axt“ gleichkomme und ein Schutzvakuum für die Bürger schaffe. Er geht davon aus, dass viele Verurteilungen von Beamt:innen, die mit Privatleuten zusammenarbeiten, ungestraft bleiben könnten. Auch die 5-Sterne-Bewegung folgt der Linie von Scarpinato, dass das Dekret den Amtsmissbrauch normalisiert und erleichtert.

Don Luigi Ciotti und Libera: Ein Rückschritt für die Legalität

Die von Don Luigi Ciotti gegründete und geleitete Anti-Mafia-Vereinigung Libera erklärte, dass die Abschaffung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs „einen Rückschritt und eine Schwächung im Kampf für die Legalität und gegen die Korruption“ darstellt[2]. Ciotti betont, dass die Entscheidung im Namen der Effizienz der öffentlichen Verwaltung getroffen werde. Diese könne aber vielmehr durch Investitionen in Professionalität und Qualität gewährleistet werden. Der Verband kritisiert die Vorgehensweise der Regierungsmehrheit und der Parlamentarier:innen von Italia Viva und Azione und bezeichnet die italienische Situation als einen einmaligen Fall in Europa, der im Gegensatz zu den internationalen Konventionen stehe.

Giovanni Melillo: Amtsmissbrauch und der Kampf gegen das organisierte Verbrechen

Der nationale Anti-Mafia-Staatsanwalt Giovanni Melillo äußerte bei seiner Anhörung vor dem Justizausschuss des Senats erhebliche Bedenken[3]. Er betonte das Risiko, dass die Streichung des Amtsmissbrauchs zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs schwerwiegenderer Straftaten führen würde, wie etwa der externen Komplizenschaft in mafiösen Vereinigungen. Melillo äußerte auch Zweifel an der Neuformulierung des Straftatbestands der unerlaubten Einflussnahme und wies darauf hin, dass viele illegale Geschäfte, die auf die Begehung von Amtsmissbrauch abzielen, nicht mehr unter den Straftatbestand fallen könnten.

Auswirkungen auf internationaler Ebene

Das Nordio-Gesetz könnte auch auf internationaler Ebene erhebliche Probleme verursachen. Ein aktueller Vorschlag für eine Richtlinie der Europäischen Union aus dem Jahr 2023 sieht die Kriminalisierung von Amtsmissbrauch vor. Die Abschaffung dieses Straftatbestands könnte gegen diesen Vorschlag verstoßen, was erhebliche Kosten und Brüche im derzeitigen Recht zur Folge hätte. Gleichzeitig betrachten andere EU-Mitgliedstaaten Amtsmissbrauch als Straftatbestand, was zu Regelungskonflikten führen könnte.

Die UN-Konvention gegen Korruption ist ein weiterer entscheidender Aspekt. Sie verpflichtet die Staaten, gesetzliche Maßnahmen zu ergreifen, um Amtsmissbrauch unter Strafe zu stellen, wenn er vorsätzlich begangen wird. Die Abschaffung des Straftatbestands in Italien könnte dazu führen, dass diese internationalen Verpflichtungen nicht eingehalten werden.

Es besteht zudem das Risiko einer Schwächung der Sanktionen: Obwohl es relativ wenige Verurteilungen wegen Amtsmissbrauchs gegeben hat, wirkt der Straftatbestand abschreckend. Die Abschaffung des Straftatbestands könnte die Sanktionen gegen korrupte Phänomene schwächen, die über die bloße Kommerzialisierung des öffentlichen Dienstes hinausgehen und alle Verhaltensweisen umfassen, die einer transparenten und unparteiischen Verwaltung zuwiderlaufen. Darüber hinaus können die verhältnismäßig vielen Archivierungen von Fällen im Gegensatz zu tatsächlichen Verurteilungen auch in einem anderen Licht gelesen werden: Oft wurde das Vergehen des Amtsmissbrauchs abgewiesen, aber der Angeklagte wurde später zu schwereren Strafen verurteilt, deren Untersuchung jedoch mit dem Verdacht des Amtsmissbrauchs in Gang gesetzt wurden.

Trotz der scheinbaren Vereinfachung des Justizsystems könnte dieser gesetzgeberische Schritt Räume der Straflosigkeit eröffnen und die rechtlichen Instrumente gegen rechtswidriges Verhalten innerhalb der öffentlichen Verwaltung schwächen. Obwohl es sich um ein oft unterschätztes Verbrechen handelt, hat sich der Straftatbestand als stark abschreckend erwiesen. Dessen Abschaffung könnte dazu führen, dass diese Abschreckung verloren geht und Amtsmissbrauch und Fehlverhalten von Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes begünstigt werden. Sie lässt Raum für möglichen Machtmissbrauch und weckt Zweifel an der Transparenz und Integrität der Institutionen. Nicht zuletzt könnte die Abschaffung von Amtsmissbrauch die Bemühungen im Kampf gegen das organisierte Verbrechen schwächen, insbesondere wenn man die Verbindung zu Phänomenen wie Korruption und Machtmissbrauch bedenkt.


[1] So in seinen parlamentarischen Reden, insbesondere am 10.01.2024, abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=LHTl5L3hFzQ. Ähnlich äußerte er sich in mehreren Interviews, abrufbar unter https://www.fanpage.it/politica/scarpinato-m5s-litalia-abolisce-labuso-dufficio-e-diventa-la-patria-della-corruzione/ ; https://www.antimafiaduemila.com/home/mafie-news/306-giustizia/99169-scarpinato-il-governo-e-intollerante-ai-controlli-ecco-perche-abolire-l-abuso-d-ufficio.html.

[2] So äußerte sich Don Ciotti als Portavoce di Libera  In einer Stellungnahme zur Verabschiedung der Reform des Justizministers Carlo Nordio; abrufbar unter https://www.libera.it/schede-2644-giustizia_nordio_abuso_d_ufficio.

[3] Abrufbar unter https://comunicazione.camera.it/archivio-prima-pagina/19-31098.