Im April 2023 hat das italienische Antimafia-Kriminalamt Direzione Investigativa Antimafia (DIA) seinen Bericht über das erste Halbjahr 2022 veröffentlicht. Darin beschreibt und analysiert es seine Ermittlungen und deren Ergebnisse im Berichtszeitraum. Neben umfangreichen Kapiteln über die Aktivitäten der einzelnen Mafia-Organisationen in den italienischen Regionen gibt es auch Kapitel über deren Tätigkeiten im Ausland. Mit drei ganzen Seiten ist das Kapitel über Deutschland das zweitlängste Länderkapitel, übertroffen nur von Spanien.
Die DIA unterstreicht “die Bedeutung der internationalen Zusammenarbeit, um die Wirksamkeit des Kampfes gegen kriminelle Organisationen zu maximieren, die heute systematisch über nationale Grenzen hinweg agieren. In dieser Hinsicht verfolgt die DIA den internationalen Kampf gegen die Mafia mit größtem Engagement, nicht nur auf operativer Ebene, sondern auch durch eine energische Sensibilisierungsarbeit bei den ausländischen Gesprächspartnern. Ein Engagement, das sich auf das wichtige Projekt des Operativen Anti-Mafia-Netzwerks @ON stützt, dessen Gründer, Förderer und Projektleiter die DIA ist und dem der spezifische Fokus gewidmet ist.”
Um die Informationen des DIA-Berichts der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, haben wir die Kapitel über Deutschland sowie Österreich und die Schweiz übersetzt und veröffentlichen sie auf unserer Webseite. Alle weiteren Übersetzungen finden Sie hier. Der 453 Seiten starke Originalbericht auf Italienisch ist auf der Webseite der DIA erhältlich.
Deutschland im DIA Report 2022/1
“Deutschland, die treibende Kraft der europäischen Wirtschaft, ist eines der Länder, in denen ein erheblicher wirtschaftlicher Austausch mit Italien konstatierbar ist. Aus diesen Gründen ist es unvermeidlich, dass das Land zu einem starken Anziehungspunkt für italienische Mafia-Organisationen wird, die vor allem im Westen und Süden des Landes aktiv sind, vor allem in den wohlhabenden Bundesländern wie Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen. Italienische Clans haben im Laufe der Jahre versucht, die Wirtschaft schrittweise und auf legalem Wege zu unterwandern, etwa durch den Erwerb von Gastronomiebetrieben und Pizzerien, die als Tarnung für die Durchführung illegaler Geschäfte verschiedener Art genutzt werden. Gleichzeitig wurde die traditionelle Beteiligung am florierenden Markt des Drogenhandels weiter verstärkt.
Im Einzelnen haben die jüngsten Untersuchungen, die von den italienischen und deutschen Behörden infolge des bekannten Attentats von Duisburg gemeinsam durchgeführt werden, aufgezeigt, wie einige gewerbliche Unternehmungen, die von mutmaßlichen Mitgliedern der organisierten italienischen Kriminalität ausgeführt werden, zu logistischen Ausgangspunkten für „Gipfeltreffen“ und für die Planung illegaler Aktivitäten geworden sind. Die Verstärkung der Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden hat es ermöglicht, eine aktualisierte Kartierung der in Deutschland aktiven Banden zu erstellen und wirksame Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Diese Zusammenarbeit beruht hauptsächlich auf einer konsolidierten, engen Zusammenarbeit zwischen der DIA und dem Bundeskriminalamt. Verstärkt wurde diese Zusammenarbeit zuletzt durch den Beitritt Deutschlands in das @ON-Netzwerk, in dem wichtige Ermittlungsarbeiten vorangebracht wurden, unter anderem die besonders herausragende Operation „Platinum Dia“.
In Deutschland haben die italienischen Mafia-Organisationen die verschiedenen illegalen Aktivitäten untereinander aufgeteilt, mit der Folge, dass der Drogenhandel hauptsächlich unter der Kontrolle der ‘ndrangheta steht, während die Bauwirtschaft von der Cosa Nostra und der Verkauf von gefälschten Waren von der Camorra kontrolliert werden. Angesichts der im Laufe der Jahre durchgeführten Ermittlungs- und Präventionsmaßnahmen kann davon ausgegangen werden, dass die ‘ndrangheta das makrokriminelle Element darstellt, das für die Wirtschafts-, Finanz- und Handelsbeziehungen der einzelnen Bundesländer am schädlichsten ist. Früher durchgeführte Polizeiermittlungen hatten es ermöglicht, die kalabrische kriminelle Präsenz in Deutschland immer dort zu erfassen, wo das ursprüngliche kriminelle Muster exportiert und in derselben Form repliziert wurde; dies äußerte sich in solchen Strukturen, die denen des „Crimine“ von Reggio ähnelten, zu dem offensichtlich ein Abhängigkeitsverhältnis bestand.
Die Operation „Platinum Dia“ im Jahr 2021 hat es ermöglicht, eine Gruppierung der ‘ndrangheta zu identifizieren, die der Familie GIORGI, bekannt als BOVICIANI, aus San Luca (RC) zuzuschreiben ist und sich dem internationalen Drogenhandel widmete; zuletzt hatte die Operation die Existenz einer kriminellen Struktur aufgedeckt, die dem illegalen Import nach Italien und der Vermarktung zahlreicher Kraftfahrzeuge aus dem Ausland, hauptsächlich aus Deutschland, verschrieben war. In diesem Zusammenhang hat die DIA am 19. Mai 2022 eine Anordnung zur vorzeitigen Beschlagnahme vollstreckt, die von der Abteilung für Präventionsmaßnahmen des Gerichts Turin gegen zwei Unternehmer erlassen wurde, die als Mitglieder der ‘ndrangheta, des locale von Volpiano (TO), gelten. Die Maßnahme zur Bekämpfung von Vermögensstraftaten ermöglichte die Beschlagnahme der Gesellschafteranteile an acht Unternehmen und fünf Unternehmenskompendien, die im Gaststätten- und Hotelsektor tätig sind, des Weiteren die Beschlagnahme von elf Immobilien, acht Fahrzeugen und 45 Finanzberichten mit einem Gesamtwert von über drei Millionen Euro. Am 27. April 2022 wurden am Gericht Turin im Rahmen des Sonderverfahrens, das zur Vollstreckung der Strafe auf Antrag der Parteien stattfand, drei Angeklagte verurteilt, die für ihre Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, die auf Betrugsgeschäfte und den Besitz und Verkauf von Betäubungsmitteln abzielte, sowie für ihre Mitgliedschaft in einer Mafia-Vereinigung verantwortlich gemacht wurden. In Bezug auf dasselbe Gerichtsverfahren sind die Strafanträge der Staatsanwaltschaft zu erwähnen, die in der Sitzung vom 30. Mai 2022 zu Lasten der Angeschuldigten ausgesprochen wurden, die beantragt hatten, in einem abgekürzten Verfahren verurteilt zu werden.
Auch die kalabrischen Clans der Provinz Crotone operieren auf deutschem Territorium, wie aus den Ermittlungsergebnissen der Operation „Stige“ [Styx] von 2018 hervorgeht. Am 4. Mai 2022 wurde im Zuge dieser Ermittlungen ein Beschlagnahmebeschluss des Gerichts Bologna vollstreckt, der einen aus Crotone stammenden Unternehmer mit Wohnsitz in der Gegend von Parma betraf, von dem angenommen wird, dass er der ‘ndrangheta angehört. In Bezug auf die Präsenz der organisierten Kriminalität Kalabriens ist hinzuzufügen, dass im Zuge der am 17. Februar 2022 abgeschlossenen Operation „Tritone“ der DDA in Rom die Existenz eines locale der ‘ndrangheta enthüllt wurde, die auf den Gemeindegebieten von Anzio und Nettuno tätig war und eine Unterabteilung des locale von Santa Cristina d‘Aspromonte (RC) war, dem aber auch zum großen Teil Mitglieder der ‘ndrangheta-Familien von Guardavalle (CZ) angehörten; die illegalen Tätigkeiten zielten unter anderem auf den internationalen Drogenhandel und auf fiktive Waren- und Wertübertragungen ab und wurden auch im Ausland ausgeübt (Deutschland, Schweiz, Kanada, Australien). Schließlich zeigte am 10. Mai 2022 die Ermittlungsarbeit, die von der DIA mit Unterstützung des @ON-Netzwerks im Rahmen der Operation „Propaggine“ der DDA in Rom und in Reggio Calabria durchgeführt wurde, wie sich der Einfluss einiger ‘ndrangheta-Familien im Laufe der Zeit von Kalabrien (insbesondere von den in der Provinz Reggio befindlichen Gemeinden Cosoleto und Sinopoli) nach Rom und darüber hinaus jenseits der nationalen Grenzen ausgebreitet hat (Deutschland, Schweiz, Kanada, Australien).
Das Bestreben bestimmter krimineller Gruppen kalabrischen Ursprungs, die Gebiete der ostdeutschen Bundesländer, insbesondere Thüringen und Sachsen, zu unterwandern, darf nicht unterschätzt werden; die schwierigen sozioökonomischen Verhältnisse in Verbindung mit der Wiedervereinigung haben von Anfang an große Spielräume für die Kriminalität geschaffen, in die neben den osteuropäischen Banden auch die Vertreter der kalabrischen Mafia-Familien mit ihren erheblichen Finanz- und Immobilienspekulationen eingedrungen sind.
Auf der anderen Seite ist es der Cosa Nostra dank der Anwesenheit zahlreicher Einwanderer sizilianischer Herkunft gelungen, sich auf dem florierenden Markt der illegalen Geschäfte zu etablieren; zumeist aus dem Raum Agrigent stämmige Personen haben sich in den Bereichen des Drogenhandels und der Einflussnahme auf öffentliche Vergabeverfahren betätigt. In dieser Hinsicht haben die jüngsten Ermittlungen das Interesse des Clans RINZIVILLO aus Gela (CL) ans Licht gebracht, in den Bereichen Drogenhandel und Geldwäsche mitzumischen; des Weiteren wurden durch einen Personenkreis, der auf die Familie SANTAPAOLA-ERCOLANO zurückzuführen ist, die Erlöse aus illegalen Geschäften in Verbindung mit Online-Spielen durch den Erwerb von Grundstücken, Gebäuden und Unternehmen gewaschen. In der Tat wurde am 24. März 2022 infolge der Ermittlungsarbeit, die Licht auf die Interessen der Familie SANTAPAOLA-ERCOLANO aus Catania im Wettsektor auf nationalem und europäischem Gebiet (Deutschland, Polen und Malta) geworfen hatte, durch das Gericht Catania die Einziehung der Vermögenswerte von zwei Personen angeordnet, die die Erlöse aus Steuerhinterziehung über ein maltesisches Unternehmen gewaschen hatten und Grundstücke, Gebäude und Unternehmen in Italien und Deutschland gekauft hatten.
Die kampanischen Mafia-Clans sind seit einigen Jahrzehnten in Deutschland präsent und widmen sich der Fälschung im Bekleidungssektor (als sogenannte magliari), während die mit der apulischen Kriminalität verbundenen Banden eher in den reichen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Rheinland, Baden-Württemberg, Bayern und Hessen) aktiv sind, im Bereich des Betrugs im Agrar- und Lebensmittelsektor und des Drogenhandels.
Auch die organisierte Kriminalität aus Albanien nutzt deutsches Hoheitsgebiet für den Drogenhandel, wie die im Berichtssemester abgeschlossenen Maßnahmen belegen: Am 1. Februar 2022 wurde im Rahmen der Aktion „Fontanella 2019“ eine Vereinigung identifiziert, die Kokain und Haschisch auch aus Deutschland importierte, während am folgenden 15. Februar 2022 die Ermittlungen der Operation „Black Eagle“ die Aufsprengung einer Mafia-Organisation ermöglichte, die dem OSMANI-Clan zuzuschreiben ist und Kokain aus Lateinamerika herbeischaffte, um es später in verschiedenen europäischen Territorien, darunter Hamburg, weiter zu verteilen.
Während des Berichtszeitraums wurde festgestellt, dass in Deutschland verschiedene Clans häufig auf Finanzdelikte zurückgreifen. Am 28. Juni 2022 wurden die Ergebnisse der von der Bezirksstaatsanwaltschaft Trient durchgeführten Operation „Melita“ veröffentlicht; es wurde ein sehr aktives Netzwerk identifiziert, das sich dem internationalen Schmuggel von Zigaretten, Energieprodukten und Alkohol mit wichtigen Verzweigungen in England, Slowenien, Deutschland, Belgien, Holland, Polen, Frankreich, Bulgarien und Griechenland widmete. Insbesondere wurde ein florierender Schmuggelverkehr der oben genannten Produkte aus Deutschland und Slowenien rekonstruiert; an Bord von Sattelzügen, Reisebussen, Lieferwagen und sogar von PKWs, die oft mit Verstecken ausgestattet waren oder durch andere Güterladungen getarnt wurden, gelangten die gefälschten Waren über die Grenzübergänge Tarvisio und Triest, sowie über den Brenner, nach Italien. Zuvor war am 13. April 2022 in Treviso ein Einsatz der Kriminalpolizei erfolgreich abgeschlossen worden, auf den in dem Österreich betreffenden Abschnitt eingegangen wird; hier wurde die Beschlagnahme einer beträchtlichen Menge geschmuggelten Diesels aus Österreich und Deutschland als Ermittlungserfolg erzielt.
Am 8. März 2022 wurde schließlich in Turin im Rahmen der Operation „Ferromat“ eine kriminelle Vereinigung zerschlagen, die auf den illegalen Handel mit Metallabfällen und die Ausstellung und Verwendung von Dokumenten abzielte, die nicht existierende Transaktionen von Strohfirmen und/oder Einzelunternehmen „auf Papier“ bescheinigten und sich eines dichten Netzes an Strohleuten bedienten; einige dieser Unternehmen waren auch in Deutschland ansässig.
Im Berichtszeitraum wurde auch die Rolle erkannt, die Deutschland bei der Unterschlupfgewährung für flüchtige Kriminelle zukommt; dies wurde in der Operation „Transilvania“ deutlich, die in dem Rumänien betreffenden Abschnitt des Berichts behandelt wird.”
Foto: Direzione Investigativa Antimafia