Die Ausbeutung von Landarbeiter:innen ist eines der ältesten Geschäfte der Mafia. Nicht nur aus diesem Grund ist das Caporalato ebenso zu bekämpfen wie die Mafia selbst.
Geschichtlicher Hintergrund
Das Caporalato entstand in den vergangenen Jahrhunderten in Italien und im Rest der Welt als eine Form der Anwerbung billiger Arbeitskräfte. Insbesondere bei landwirtschaftlichen Arbeitskräften durch Anwerber im Auftrag von landwirtschaftlichen Unternehmern. Diese Praxis wurde jahrelang als normale Form der Anwerbung fortgesetzt, obwohl bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, d.h. auf dem Höhepunkt der industriellen Revolution, die ersten echten Formen des Arbeitnehmerschutzes eingeführt wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts machten mafiöse Organisationen in Italien daraus ein Geschäft, indem sich Mafia-Clans und landwirtschaftliche Unternehmer:innen die sonst den Arbeiter:innen zustehenden Erlöse aufteilten. Zu den verschiedenen Ursachen, die die Plage des Caporalato beeinflussen, gehören die Migrationsphänomene der letzten Jahrzehnte, die dazu beigetragen haben, die Rolle der zugewanderten Arbeitskräfte neu zu definieren; diese sind absolut unverzichtbar, weil sie die Beschäftigungslücken in einigen „schwächeren“ Sektoren füllen, in denen der Bedarf an billigen Arbeitskräften dafür sorgt, dass die zugewanderten Arbeitskräfte im Vergleich zu den einheimischen attraktiver sind.
Bezeichnend ist der Fall der Arbeitsmigrant:innen in der süditalienischen Landwirtschaft, insbesondere in Sizilien. Die Anwesenheit von Migrant:innen, die Sizilien als vorübergehende Etappe ihrer Reise betrachten, hat zu einem Anstieg der Verfügbarkeit von billigen Arbeitskräften geführt; diese sind in der Lage, den vorübergehenden Bedarf des Marktes und des lokalen Produktionssektors zu decken. Im südöstlichen Teil der Insel, insbesondere in Cassibile (Provinz Syrakus), ist die saisonale landwirtschaftliche Arbeit von Migrant:innen seit Jahren eine gängige Praxis. Tatsächlich fahren viele Saisonarbeiter:innen nach Cassibile, um Kartoffeln zu ernten. Jeden Morgen zwischen fünf und sieben Uhr werden die Migrant:innen auf dem Dorfplatz oder in den Cafés angeworben, um später zum Arbeitsplatz gebracht zu werden. Sie erwartet ein neun- bis zehnstündiger Arbeitstag für ein Gehalt von 30 bis 35 Euro pro Person, von dem noch 3 bis 5 Euro für den Transport auf die Felder abgezogen werden. Die durchschnittliche Ernte beträgt 100 Kisten Kartoffeln pro Tag. Wer dieses Ziel nicht erreicht, findet am nächsten Tag keine Arbeit.
Der „Caporale“ gilt als Bindeglied zu kriminellen Aktivitäten, die darauf abzielen, die illegale Einreise von Arbeitsmigrant:innen zu organisieren, und die häufig von mafiösen Vereinigungen geleitet werden. Sie kümmern sich auch um den Transport der illegal angeworbenen Arbeiter:innen und um ihre Unterbringung in Zelten oder verlassenen Häusern auf dem Land. Häufig findet die Anwerbung sogar in Aufnahmezentren für Asylbewerber:innen (CARA) oder anderen Orten statt, an denen sich viele potenziellen Arbeitnehmer:innen oder kürzlich arbeitslos gewordenen Personen aufhalten, wie Ghettos oder Vorstädte. Um noch effizienter billige Arbeitskräfte zu rekrutieren, verschmäht das neue Caporalato auch die neuesten Technologien nicht. WhatsApp ist der neue Marktplatz, der allmählich die physischen Dorfplätze ablöst: die Sammelstelle für Landarbeiter:innen, wodie Löhne in Echtzeit durch Versteigerung ermittelt werden. Das macht das Phänomen viel schnelllebiger und weniger rückverfolgbar.
Der „Caporale[i]“ kann schnell eine große Anzahl von Arbeiter:innen auftreiben. Vor allem bei der Tomatenernte ist eine große Anzahl von Arbeitskräften unerlässlich, da die Tomaten innerhalb weniger Tage geerntet werden müssen. Außerdem hängen die geernteten Mengen von der Anzahl der Lastwägen ab, die dem Landwirt vom Händler oder der Agrargenossenschaft zur Verfügung gestellt werden. Die von den „Caponeri [ii]“ ausgeübte Gewalt ist vor allem eine stille Gewalt: nicht nur, weil sie die „Caposquadra [iii]“ der Landarbeiter:innen sind, sondern auch, weil sie die Hauptkontrolle über den Zugang zur Arbeit innehaben, was den „Caponeri“ eine Macht verleiht, der man sich nur schwer widersetzen kann. Der Gewinn, den ein „Caponero“ aus seiner Tätigkeit zieht, hängt mit dem vorherrschenden Lohnsystem zusammen: Ernte im Akkord, die in den meisten landwirtschaftlichen Arbeitsverträgen illegal ist. Auf diese Weise behält der „Caponero“ einen Teil des Lohns, den jede:r Landarbeiter:in pro gefüllte Kiste erhält, für sich.
Einige Arbeiter:innen behaupten, dass die „Caporali“ unentbehrlich seien, um in Gebieten, in denen es schwierig ist, direkt mit Arbeitgeber:innen in Kontakt zu treten, eine Beschäftigung zu finden, aber auch um eine Wohnung zu finden und andere Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Im Gegensatz zu den Arbeitsämtern werden die „Caporali“ heutzutage als effizientere, wenn auch illegale, Art betrachtet, solche Leistungen zu erbringen. Die Arbeitgeber:innen akzeptieren das Phänomen also voll und ganz und erkennen seine Notwendigkeit an. Gleichzeitig sind sie auf einem Auge blind für die Ausbeutung, die mit ihrer Unterstützung betrieben wird – sei diese auch noch so offenkundig und weithin bekannt.
Und in Deutschland?
Die Plage des Caporalato betrifft nicht nur Italien. Die Fair Agriculture Initiative hat massive und wiederholte Verstöße gegen die Rechte von Saisonarbeiter:innen in der deutschen Landwirtschaft festgestellt. Die Untersuchung ergab „unvollständige Lohnzahlungen und übermäßige Lohnabzüge“, das Fehlen einer Sozial- und Krankenversicherung sowie „unzureichende Unterkünfte“. Während früher ein großer Teil der Saisonarbeitskräfte aus Polen kam, kommt heute die Mehrheit aus Südosteuropa und insbesondere aus Rumänien. In einigen Teilen Deutschlands konzentrieren sich die Saisonarbeitskräfte auf landwirtschaftliche Familienbetriebe. Die schlimmsten Situationen beschreibt die Untersuchung in Brandenburg, wo sich die großen Spargel-, Erdbeer- und Gurkenbetriebe befinden. Harald Schaum, stellvertretender Bundesvorsitzender der Ig Bau, prangerte die mangelnde Durchsetzung der ohnehin schon laxen Vorschriften an. Dies fördere sogar den Missbrauch und den unzulässigen Wettbewerb zwischen gesetzestreuen Unternehmen und solchen, die gegen die Vorschriften verstoßen.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Fleischlobby sehr mächtig ist und die Fleischindustrie einer der wichtigsten Beitragszahler für die Staatskasse ist, weshalb oft ein Auge zugedrückt wird, wenn es um das Fehlverhalten von Unternehmen geht. Die von den Behörden bisher gezeigte Schwäche wollte die Bundesregierung mit einer Regulierungsmaßnahme kompensieren. Ab dem 1. Januar 2021 dürfen die Schlachtung und die Fleischverarbeitung nur noch von direkten Mitarbeiter:innen der Unternehmen durchgeführt werden. Es ist verboten, Aufgaben, die zu den Kerntätigkeiten des Unternehmens gehören, an Subunternehmen zu vergeben und auf diese Weise die Verantwortung auf Zeitarbeitsfirmen mit Sitz in anderen europäischen Ländern abzuwälzen, die oft nur auf dem Papier existieren und allein für den Zweck der Anwerbung von Arbeitskräften unter völlig illegalen Bedingungen gegründet wurden. Victoria Stoiciu vom Bukarester Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung erklärt, dass deutsche Unternehmen Subunternehmen damit beauftragen, Arbeitskräfte in Rumänien anzuwerben. Diese werden dann in einem Zug nach Deutschland transportiert, als wären sie selbst eine Ware. Nach Schätzungen der rumänischen Gewerkschaften gilt dieses Matrjoschka-System der Unterauftragsvergabe auch im Bau-, Verkehrs- und Sozialwesen. Auf diese Weise können die Gesetze über Mindestlöhne und soziale Mindeststandards umgangen werden.
Dank sogenannter Subunternehmerverträge können Unternehmen die Einstellung ihrer Arbeitnehmer:innen an Drittunternehmen delegieren, die diese in den Herkunftsländern massenhaft anwerben und zu den dort geltenden Bedingungen einstellen. Die Fleischindustrie verfügt somit über Arbeitskräfte zu Kosten, die unter dem in Deutschland für diesen Sektor festgelegten Mindestsatz liegen, und dies auf völlig legale Weise. Um im reichen Deutschland eine Chance zu haben, akzeptieren diese Migrant:innen Bedingungen, die an Sklaverei grenzen: prekäre hygienische Bedingungen, ein Stundenlohn von wenigen Euro, anstrengende Arbeitsschichten, keine Pausen, keine Versicherung, keine medizinische Versorgung, Schwarzarbeit, die nach dem Ermessen des Arbeitgebers bezahlt wird. Da sie kein Deutsch sprechen, sind sie völlig auf sich allein gestellt. Der Druck und die Angst, die auf den Arbeitnehmer:innen lasten, werden von den sogenannten „Kapos“ aufrechterhalten, die auch das Privatleben der Arbeiter:innen kontrollieren. Die Arbeitnehmer:innen sind ihren Chefs völlig ausgeliefert. Vom monatlichen Lohn wird ein Anteil für die Wohnungsmiete und die damit verbundenen Kosten sowie für die Fahrt zum Arbeitsplatz abgezogen. Die Unterbringung ist prekär und überfüllt: bis zu acht Personen in einem Zimmer, das nur mit Metallbetten ausgestattet ist. Wer diese Bedingungen nicht akzeptiert, riskiert die fristlose Entlassung.
Ein weiteres wichtiges Thema für die deutschen Regierung ist die Massentierhaltung, die nicht nur für die Tiere Gesundheitsrisiken und Ausbeutung bedeutet. Aus diesem Grund verabschiedete die Regierung am 29. Juli 2020 ein Gesetz, das die Untervergabe von Arbeitskräften und den Einsatz von Zeitarbeitsfirmen in der Fleischproduktion und -verarbeitung abschafft und ein neues System von Gegenmaßnahmen vorsieht, einschließlich strengerer und systematischerer Kontrollen und höherer Geldstrafen für diejenigen, die gegen Arbeitszeitvorschriften verstoßen. Bereits 2014 hat die Zeit eine Recherche über die grenzwertigen Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen einiger Fleischunternehmen mit Arbeitskräften aus osteuropäischen EU-Ländern (Polen, Ungarn, Bulgarien) und den Randstaaten Ukraine und Moldawien durchgeführt. Die Recherche deckte ein System des Menschenhandels und der Ausbeutung auf, das dem des berüchtigten italienischen Caporalato gleichkommt.
Agromafie und Caporalato in Italien
Die Ausbeutung von Arbeitskräften und das Caporalato werden durch die Unterwanderung der Lebensmittelkette durch kriminelle Organisationen noch verstärkt. Es genügt anzumerken, dass fast 50% der beschlagnahmten oder eingezogenen Vermögenswerte der Mafia landwirtschaftliche Flächen sind (30.526 von 68.194). Der italienische Bauernverband Confederazione Italiana Agricoltori (CIA) hat festgestellt, dass die Mafia die gesamte Lebensmittelkette kontrolliert, vom Anbau bis zum Supermarktregal. Diese kapillare Präsenz, so die CIA, erstickt den Markt, zerstört den fairen Wettbewerb und schafft ein Monopol beziehungsweise ein Oligopol, das auf Angst und Zwang beruht. Darüber hinaus schreiben die Mafia-Organisationen den Landwirt:innen die Einkauspreise vor, kontrollieren die Arbeitskraft der Eingewanderten durch das Caporalato-System, entscheiden über die Kosten für Logistik und die wirtschaftliche Transaktionen, setzen ihre eigenen Transportunternehmen ein, mit denen auch Drogen und Waffen transportiert werden, und besitzen eigene Dienstleister für das Be- und Entladen. Zusätzlich sind die kriminellen Organisationen in den letzen Jahren durch den Einstieg in den Großhandel mit eigenen Supermärkten und Marken bis direkt auf den Esstisch der Italiener:innen vorgedrungen.
Maurizio De Lucia – Oberstaatsanwalt von Palermo – betont auch, dass die Verbindung der Mafia mit der Landwirtschaft kein neues Phänomen ist, sondern historische und kulturelle Wurzeln hat, da die Mafia-Organisationen auf dem Land entstanden sind. Obwohl die Mafiaclans schon seit Mitte des letzten Jahrhunderts auch in andere Wirtschaftszweige wie das Baugewerbe investieren, ist die Landwirtschaft bis heute ein wichtiges Geschäft der in diesem Gebiet verwurzelten Mafiaorganisationen. Dazu gehören heutzutage Erpressung und das Aufzwingen von Lieferungen bis hin zur Enteignung des Betriebs selbst.
Obwohl sich die Mafia verändert, stellt sie aus mehreren Gründen dieses grundlegende und identitätsstiftende Merkmal nicht in Frage:
- Der Primärsektor ist nach wie vor der Sektor, in dem der Anteil der Wertschöpfung, der von nicht angemeldeten Personen erzeugt wird, am höchsten ist;
- Die Landwirtschaft und die Agrarindustrie sind antizyklische Sektoren, die von Krisen weniger betroffen sind als andere, sodass die Investitionen auch im Verhältnis zu den Exporten rentabel sind – eine wahre Goldgrube für die Mafia mit ihren Verzweigungen in der ganzen Welt;
- In Gebieten mit traditioneller Mafiapräsenz bedeutet die Kontrolle über das Land immer noch die Kontrolle über einen sehr wichtigen Teil der Wirtschaft dieser Gebiete, und Mafias sind überall auf der Welt stark, weil sie starke Wurzeln in den Gebieten haben, aus denen sie stammen.
Agromafie und Caporalato betreffen jedoch das gesamte italienische Staatsgebiet. Die wirtschaftlichen Folgen der Illegalität im Lebensmittelsektor führen zu einem eindeutigen Wohlfahrtsverlust für die Gemeinschaft, da ehrliche Unternehmer:innen unter unlauterem Wettbewerb leiden, Arbeitsnehmer:innen ihre Rechte nicht anerkannt sehen und die Kontrolle der Herstellung und Vermarktung von Produkten durch die Mafia dazu führt, dass minderwertige, unkontrollierte und manchmal sogar gesundheitsschädliche Produkte auf den Markt gebracht werden. Aus den Schätzungen des Statistikinstituts ISTAT, die im vierten Bericht über die Agromafie und den Caporalato aufgeführt sind, geht hervor, dass im Jahr 2021 fast 230.000 Personen irregulär im Primärsektor beschäftigt waren, davon 55.000 Frauen. Frauen sind unter anderem einer dreifachen Ausbeutung ausgesetzt: der Arbeit, aufgrund der Bedingungen, unter denen sie arbeiten, dem Lohn, da selbst unter den Ausgebeuteten die Löhne der Frauen niedriger sind als die der Männer, und schließlich der sexuellen und körperlichen Ausbeutung. Schätzungen zufolge beläuft sich der jährliche Gesamtumsatz der Agromafias auf fast 24,5 Milliarden Euro.
Sicherlich haben die aufeinanderfolgenden Regierungen das Phänomen über viele Jahre hinweg unterschätzt, und diejenigen, die es jetzt angehen wollen, sehen sich mit einer komplexen Realität konfrontiert, die sogar von prominenten Persönlichkeiten der Mafia geschützt wird.
Wenn das Caporalato in der Landwirtschaft ein Phänomen ist, das wie die Mafia bekämpfen werden muss, wie der Landwirtschaftsminister Maurizio Martina nach den dramatischen Fällen von Landarbeiter:innen, die im Sommer 2015 auf apulischen Feldern starben, erklärt hatte, „dann darf sich der Kampf nicht nur auf die Repression beschränken, sondern muss – wie Paolo Borsellino immer wieder betonte – eine kulturelle und moralische Bewegung sein, die alle und insbesondere die jungen Generationen einbezieht“.
[i] Caporale: Vermittler:in zwischen Arbeitgeber:in und Arbeitnehmer:innen
[ii] Capinero: die Person, die die Arbeitsgruppe organisiert
[iii] Caposquadra: Leiter:in einer Gruppe