Giorgia Melonis inexistente Antimafia-Politik

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Giorgia Meloni ist nunmehr knapp 700 Tage im Amt. Es ist also durchaus Zeit, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob sie ihr im Wahlkampf erklärtes Versprechen, dass ihre Partei Fratelli d’Italia die Partei der Antimafia-Politik sein werde, eingehalten hat. Das hier vorliegende – natürlich nur vorläufige – Zwischenergebnis ist nicht nur besorgniserregend, sondern erschütternd. Ihre Politik scheint nicht nur keine Antimafia-Politik zu sein, sondern vielmehr eine Art „Mafiaförderungsagenda“ – zumindest was die Folgen einzelner Maßnahmen angeht. Dies soll anhand von ausgewählten, punktuell dargestellten Beispielen erläutert werden. Es bleibt natürlich abzuwarten, ob Giorgia Meloni die restliche Regierungszeit nutzen wird, um ihr Versprechen doch noch einzulösen.

Erster Akt – Erhöhung der “Bargeldobergrenze”

Gerade mal einige Wochen im Amt, kündigte die neue Ministerpräsidentin an, dass die Höchstgrenze für Bargeld-Zahlungen angehoben werden soll: von 2.000 auf – zunächst – 10.000 EUR. Die Oppositionsparteien waren empört. Zu Recht. Denn ursprünglich sollte die Höchstgrenze nach einem Dekret der Vorgängerregierung unter Mario Draghi sogar auf 1000 Euro reduziert werden. „Die Begrenzung“ – so Draghi – sollte „die Steuerhinterziehung erschweren“. Denn schließlich ist bekannt, dass dem italienischen Staat jährlich etwa 18 bis 20 Prozent aller Steuern vorenthalten werden. Das sind jährlich mehr als 100 Milliarden Euro, die im italienischen Haushalt fehlen.

Wieso also diese Maßnahme? Der Ministerpräsidentin ging es wohl um die „Stärkung der italienischen Wirtschaft“, so Melonis Pressesprecher. Anders formuliert: Um die Förderung der internen Konjunktur. Frei nach dem Motto: „Gebt ruhig das Schwarzgeld aus!“. Doch die Empörung der Opposition hat weitere, weit über die Steuerhinterziehung hinausgehende Gründe: Es ist bekannt, dass das größte Problem der italienischen Mafia gerade darin besteht, die großen Mengen an Bargeld, das die Organisationen durch ihre illegalen Geschäfte erwirtschaften, „reinwaschen“ zu können. Natürlich erschwert eine Bargeldobergrenze auch die Geldwäsche. Das würde jede ExpertIn in diesem Gebiet sagen. Nicht aber die Ministerpräsidentin Meloni: „Am Beispiel Deutschlands“ – so Meloni – „könne man aufzeigen, dass trotz fehlender Bargeldobergrenze Steuerhinterziehung und Geldwäsche kaum eine Rolle spielen“ würden. Eine Falschannahme und ein Trugschluss: Denn Deutschland liegt im europaweiten Vergleich, was Steuerhinterziehung angeht, ziemlich weit oben. Genau genommen: Nach Italien direkt auf Platz 2! Und wie sieht es mit der Geldwäsche aus? Es trifft zwar zu, dass in Deutschland jährlich nur wenige Täter der Geldwäsche überführt werden. Dies liegt jedoch daran, dass der Geldwäschetatbestand in der Justizpraxis schwer nachzuweisen ist und nur die kleinen Fische gefasst werden. Daher dient Deutschland gerade nicht als positiver Vergleichsmaßstab. Doch Meloni setzte sich im Ergebnis – dank eines politischen Kompromisses – durch: Die Bargeldobergrenze ist schließlich auf 5.000 EUR erhöht worden.

Zweiter Akt – Ernennung einer „Unbekannten“ zur Präsidentin der Antimafia-Kommission

Politik ist nicht selten von symbolhaften Gesten geprägt. Eine symbolische Kraft kommt jedes Mal, wenn eine neue Legislatur in Italien beginnt, der Wahl des oder der Antimafia-KommissionspräsidentIn zu. Die Kommission ist ein Ausschuss mit Mitgliedern des Parlaments und des Senats, der im Belpaese für den Kampf der Politik gegen die Mafia steht. Die Antimafia-Kommission verfügt über gerichtliche Befugnisse, sie kann die Polizei mit der Durchführung von Ermittlungen beauftragen. Wer vor diesem Gremium aussagt, ist gesetzlich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen – wie vor einem Gericht. Eine Kommission also, die wichtig ist und die idealerweise überparteilich unterwegs ist. Deshalb wurden bisher stets SpitzenpolitikerInnen, StaatsanwältInnen oder RichterInnen in dieses Amt gewählt, die sich im Kampf gegen die Mafia einen Namen gemacht haben oder irgendwie diesem Thema einen wichtigen Anteil ihres politischen oder beruflichen Werdegangs gewidmet haben.

In diesem Sinne war die Ernennung der Fratelli-d’Italia-Politikerin Chiara Colosimo – ausgerechnet am 23. Mai 2023, am 30. Jahrestag der Ermordung von Giovanni Falcone –  eine pure Provokation: Chiara Colosimo, eine 36-Jährige aus der Lokalpolitik, eine bis dato gänzlich Unbekannte, deren größte Qualifikation die Nähe zur Premierministerin war, die wie Meloni im römischen Vorortviertel Garbatella aufwuchs und bis zu ihrer Ernennung überhaupt nichts mit Antimafia zu tun hatte. Als wenige Tage nach ihrer Ernennung auch noch Hinweise auf eine frühere Nähe zu rechtsterroristischen Kreisen aufkamen, schien die Empörung solche Wellen zu schlagen, die zu einer Absetzung der Neuamtierenden hätten führen können. Doch, wie so oft in Italien, setzt nach der lauten Empörung das Vergessen ein und Chiara Colosimo ist weiterhin amtierende Chefin der Antimafia-Kommission, bisher jedenfalls die mit Abstand unauffälligste Amtsinhaberin seit Bestehen dieses Ausschusses.

Dritter Akt – Faktische Abschaffung des Bürgergelds

Der im Jahre 1982 von der Cosa Nostra in Palermo ermordete General Dalla Chiesa sagte in einem Interview anlässlich seines Amtsantritts in der sizilianischen Hauptstadt, dass die Mafia auf Sizilien unter anderem deswegen so stark verwurzelt sei, weil sie in vielerlei Hinsicht den Staat ersetze, insbesondere, wenn es um die soziale Absicherung gehe. Anders formuliert: Wenn der Staat seine BürgerInnen in der Not im Stich lässt, brauchen uns wir nicht zu wundern, dass es Mafiosi gibt, die den Sozialstaat ersetzen. Die Gefahr dabei? Sie schaffen Abhängigkeiten. Und die Mafia lebt von Abhängigkeiten.

Erst im Jahr 2019 hatte Italien, damals noch unter der Regierung von Giuseppe Conte (5-Sterne-Bewegung), das Bürgergeld eingeführt. Davor gab es in Italien so gut wie keine sozialstaatliche Unterstützung für Langzeitarbeitssuchende. Die Einführung des Bürgergeldes wurde von vielen KriminologInnen und Mafia-ExpertInnen als effizienteste Waffe gegen das Organisierte Verbrechen gefeiert. Das Bürgergeld war eine legale Alternative zum Überleben.

Doch damit ist Schluss! Die Meloni-Regierung hat das Bürgergeld flächendeckend so gut wie abgeschafft. Schon im Wahlkampf 2022 hatte Meloni das Bürgergeld scharf angegriffen. “Das Bürgereinkommen ist in der Sache falsch”, sagte sie. “Ein gerechter Staat sollte diejenigen, die arbeiten können, nicht auf eine Stufe stellen mit wirklich Bedürftigen”. Und so führte ihre Regierung statt des Bürgergeldes ein “Qualifizierungsgeld” ein: 350 Euro, ein Jahr lang, solange man an Qualifizierungsmaßnahmen teilnimmt. Danach gibt es nichts mehr.

KritikerInnen sehen in der Abschaffung eine soziale Bombe. Laut Istat, dem italienischen Statistikamt, hatte das Bürgergeld allein während der Pandemie eine Million Menschen davor bewahrt, in die absolute Armut abzurutschen. Rund 1,2 Millionen ItalienerInnen erhielten in der ersten Jahreshälfte 2023 das Bürgergeld. Besonders im Süden Italiens sind viele Menschen betroffen, da die Massenarbeitslosigkeit im zweistelligen Bereich ein strukturelles Problem geworden ist.

Cui bono? Wer profitiert von der Abschaffung dieser sozialen Absicherung? Die Mafia, denn sie hat nun kaum Schwierigkeiten, junge Menschen für ihre Machenschaften zu rekrutieren.

Vierter Akt – Angriff auf die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft

Doch der – vorläufig – letzte Akt der Regierung Meloni könnte sich als die folgenreichste Maßnahme erweisen: Denn mit einer sehr umstrittenen Justizreform will Giorgia Meloni die RichterInnen und StaatsanwältInnen auf mehr Effizienz trimmen. Zugegebenermaßen: Die Langsamkeit der italienischen Gerichtsbehörden ist seit Jahrzehnten ein Bremsklotz für das Land. Doch gegen das Vorhaben gibt es zu Recht massiven Widerstand.

Abgesehen von der im August in Kraft getretenen Abschaffung des Straftatbestands des Amtsmissbrauchs (mafianeindanke berichtete) – ein regelrechtes Geschenk für Hunderte BürgermeisterInnen, RegionalrätInnen und andere AmtsträgerInnen, die in den letzten Jahren angeklagt wurden – wollen Giorgia Meloni und ihr Justizminister Carlo Nordio den Staatsanwaltschaften und den Gerichten Druck machen. Es trifft zwar zu, wie Meloni immer wieder betont, dass die Senkung der Verfahrensdauern um mindestens 40 Prozent eine Vorgabe der EU-Kommission ist. Italien muss bis 2026 dieses Ziel erreichen, um die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds “NextGenerationEU” nicht zu verspielen. Doch anstatt den chronischen Personalmangel in den Gerichtskanzleien durch Neueinstellungen zu beenden und das hoch komplizierte Verfahrens- und Prozessrecht grundlegend zu reformieren, will Meloni die italienische Justiz ihrer verfassungsrechtlich garantierten Autonomie berauben, eine Autonomie, die in der EU ihresgleichen sucht: Organisiert und kontrolliert wird die Tätigkeit der Staatsanwaltschaften und Gerichte durch den „Consiglio Superiore della Magistratura“ (CSM), den obersten Richterrat. Dieses Selbstverwaltungsorgan ist Giorgia Meloni ein Dorn im Auge: Denn es wird nicht vom Parlament, sondern von den RichterInnen und StaatsanwältInnen gewählt, ferner entscheidet es nicht nur über die Karrieren seiner Mitglieder, sondern auch über Disziplinarfälle in den eigenen Reihen. Mit anderen Worten: Die Justiz bildet in Italien ein starkes Gegengewicht zur Regierung und Gesetzgebung.

Meloni und Nordio wollen mit ihrer Reform deshalb auch bei der Selbstverwaltung der Justiz ansetzen. Unter anderem will die Regierung ein neues Gremium schaffen, das für Disziplinarfälle zuständig sein und das nicht mehr vom CSM, sondern vom Parlament gewählt werden soll. Die Opposition, viele RichterInnen und StaatsanwältInnen sowie andere KritikerInnen werfen Meloni vor, dass damit in die Autonomie der Justiz eingegriffen werde. Oder genauer: Die Regierung beabsichtigt nun auch noch die Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen. Bisher scheinen sich die KritikerInnen durchzusetzen; es bleibt aber abzuwarten, ob das Gesetz am Ende nicht sogar Gegenstand eines Volksentscheids wird. Es wäre jedenfalls nicht die erste Justizreform, die in Italien scheitert. Jedenfalls wäre jede Einbuße, jede Relativierung der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften in Sachen Mafiabekämpfung ein großer Rückschritt: Denn gerade in einem Land wie Italien, wo die Verflechtungen zwischen Politik und mafiösen Clans so verwurzelt sind, könnte diese Maßnahme das Justizsystem im Allgemeinen und die Mafiabekämpfung im Besonderen extrem beeinträchtigen.

Kann man das noch Antimafia-Politik nennen? Die Regierung unter Giorgia Meloni legt der Organisierten Kriminalität keine Steine in den Weg, sondern ebnet ihr geradezu den Weg. So oft Italien Deutschland als Beispiel für eine effiziente Antimafia-Politik dient, diese Entwicklungen sind auf keinen Fall nachahmenswert. Das Ausmaß des Schadens in Italien bleibt abzuwarten.

Von Dr. Alessandro Bellardita