In der Ausgabe 31 aus dem Jahre 1977 nahm Der Spiegel Italien aufs Korn mit einem Titelblatt, auf dem ein mit einer Pistole „garnierter“ Teller Spaghetti zu sehen war. Beinahe 45 Jahre später ist die organisierte Kriminalität ein weltweites Phänomen, aber viele Deutsche verschließen vor dieser Tatsache bis heute die Augen. Genau diese Unkenntnis war das Einfallstor der ‘Ndrangheta in Deutschland.
“Denk immer daran. Die Welt untergliedert sich in zwei Teile: Kalabrien, und alles, was zu Kalabrien wird”
Aus diesen Worten, die aus einem abgehörten Telefongespräch zwischen zwei ‘Ndrangheta-Mitgliedern stammen, spricht der Eroberungswille einer mafiösen Organisation, die aktuell die aktivste und gefährlichste in Europa darstellt. Eine langsame, aber unaufhaltsame Eroberung, die nach dem zweiten Weltkrieg begann und die legale Anwerbung italienischer Gastarbeiter im Zuge der Verträge zwischen der BRD und Italien ausnutzte. Tatsächlich hatte die Ausbreitung der ‘Ndrangheta den Charakter eines „Fleckenteppichs“ und war in erster Linie durch die Migrationsströme und erst in zweiter Linie von wirtschaftlichen Interessen bestimmt. Die Ausbreitung der Mafia hat unterdessen eine lange Geschichte in Deutschland, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre beginnt. Dennoch sind das öffentliche Interesse und Studien dazu erst in jüngster Zeit entstanden. Die italienischen Mafiaorganisationen im Ausland agieren vorsichtig und versuchen, so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, um sich den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen. Diese „Tarnung“ erschwert es, die Mafiastrukturen zu studieren, und die Zivilgesellschaft für das organisierte Verbrechen zu sensibilisieren, das für die meisten Menschen unsichtbar und damit inexistent ist, weil es im Geheimen agiert und ausnutzt, dass die Länder, in denen es sich einnistet, unvorbereitet sind.
Der Mauerfall: neue Chancen für Mafiosi
Mit dem Mauerfall 1989 beginnt ein weiteres wichtiges Kapitel in der Ausbreitung der italienischen Mafias. Durch dieses Ereignis und die anschließende Wiedervereinigung öffneten sich in ganz Europa Grenzen und neue Räume, in die die italienische Mafias vordrang. Die Mafiaorganisationen hatten maßgeblichen Anteil an der Entstehung neuer Geschäftszweige in Ostdeutschland, und das vor allem aus einem Grund: Sie verfügten über reichlich Cash aus ihren Drogengeschäften und ihren Aktivitäten in Westdeutschland. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zum ersten Migrationsfluss, über den Mafiosi in den Westen des Landes strömten: Die kalabresische Mafia hatte bereits eine Operationsbasis in Deutschland, hatte sich dank eines engmaschigen Netzes bereits die Vorherrschaft im Drogenhandel gesichert, und war bereit, ihr Geld in ein bislang völlig unerschlossenes Gebiet zu investieren. Während sich die ersten mafiösen Strukturen eher zufällig festsetzten, entstand nun eine sehr viel kalkuliertere Eroberung neuer Gebiete.
Struktur und Hierarchie: das Diktat durch das „Mutterland“
„Die ‘Ndrangheta existiert, und sie zeichnet sich durch bestimmte Merkmale aus, nicht etwa weil sich ihre Mitglieder an bestimmte Regeln halten, sondern weil sie sich einem mafiösen System zugehörig fühlen, in dem der Name ‘Ndrangheta eine weltweit bekannte kriminelle ‚Marke‛ darstellt; innerhalb dieses Systems kann man nicht einfach machen, was man will: Wenn du dich nicht wie ein ‘Ndranghetist verhältst, wird dich irgendwer zur Ordnung rufen.“
Dies erklärte der stellvertretende Staatsanwalt des Antimafia-Kriminalamts von Reggio Calabria Giuseppe Lombardo bei einer von mafianeindanke im Jahr 2017 organisierten Antimafiakonferenz in Zusammenarbeit mit der italienischen Botschaft Berlin. Während sich die Cosa Nostra – die sizilianische Mafia – im Ausland je nach dem betreffenden Gebiet organisiert und sich von ihrem Ursprungsland abnabelt, macht die ‘Ndrangheta genau das Gegenteil: Die im Ausland lebenden Familien sind und bleiben fester Bestandteil der Familien in Kalabrien. Sämtliche Transfers, Investitionen und Aktionen, die in dem betreffenden ausländischen Staat vollzogen werden, werden mit dem Mutterland abgestimmt und sind von diesem abhängig, wie sich bei der Fehde von San Luca zeigt, die in Kalabrien entstanden ist und deren Blutspur bis zu den „Mafiamorden von Duisburg“ führt. Die ‘Ndrangheta verfolgt in Deutschland folglich zwei primäre Ziele: das erste betrifft den internationalen Drogenhandel über die „Atlantikroute“ ausgehend von Südamerika bis nach Europa über die Häfen in Rotterdam, Antwerpen, Amsterdam und Hamburg; das zweite Ziel ist die Geldwäsche, bei der Geld aus illegalen Geschäften vor allem in die Gastronomie, den Lebensmittelhandel und die Bauwirtschaft investiert wird. Staatsanwalt Lombardo erläutert:
„Einige Familien besitzen deutlich mehr kriminelles Gewicht als alle anderen. Diese ranghöchsten Familien entscheiden über das strategische Vorgehen, dennoch darf man sie nicht simpel als Anführer der ‘Ndrangheta erachten. Denn die kriminelle Organisationsstruktur hängt nicht allein von ihnen ab, auch wenn sie von ihr stark beeinflusst werden. Angesichts der vertikalen Struktur der führungsbetonten Organisation könnte man meinen, es gäbe eine Kommandozelle, einen Boss, der über ihre Geschicke entscheidet. Doch so einfach ist das nicht. Die ‘Ndrangheta verfügt über eine äußerst ausgeklügelte Kommandostruktur. Die wichtigsten, historisch gewachsenen Mafiabezirke, von denen auch die ausländischen Ableger abhängen, sind drei: die ionische Küste rund um San Luca, genannt „Mamma“; die tyrrhenische Küste mit Palmi, Gioia Tauro und Rosarno; sowie das Zentrum mit Reggio Calabria. Von diesen drei Regionen in Kalabrien gehen sämtliche Befehle aus, die von den Ablegern der ‘Ndrangheta weltweit ausgeführt werden.“
Deutschland als fruchtbarer Nährboden
Die ‘Ndrangheta ist stärker als die anderen Mafiaorganisationen für ihren Eroberungshunger bekannt, der sie zuerst nach Norditalien und dann nach Deutschland brachte. Dabei bedient sie sich derselben Verbreitungsmechanismen und der Mentalität, auf ihre familiäre Struktur zu bauen, die sich auf Blutsverwandtschaften auch außerhalb Kalabriens stützt.
„Das wahre Problem liegt darin, was wir über die Mafia wissen und was wir unter dem Konzept von organisierter Kriminalität verstehen. Eigentlich sollten wir, vor allem auf europäischer Ebene, die gleiche Sprache sprechen, doch dem ist nicht so. Das System des organisierten Verbrechens innerhalb Italiens ist enorm komplex und kompliziert zu erklären. Leider hat es seine Strategien weiter verfeinert im Zuge schwerer Krisen, in denen Anschläge, Morde, militärische Anschläge an der Tagesordnung waren, worunter der italienische Staat lange Zeit gelitten hat“, erklärt Staatsanwalt Lombardo.
Den Tatbestand der Zugehörigkeit zu einer Mafiaorganisation gibt es in Deutschland nicht. Die ‘Ndrangheta hat dieses Schlupfloch der deutschen Justiz ausgenutzt und sich unbehelligt im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System Deutschlands eingenistet. Wenn sich daran nicht bald etwas ändert, könnte die kalabresische Mafia daraus großen Nutzen ziehen und sich weiter ausbreiten. Sorgen bereiten auch die gesetzlichen Defizite hinsichtlich der Konfiszierung von Gütern: Ein Mafioso kann vielleicht mit der Aussicht auf Gefängnis oder ein Leben im Untergrund leben, aber wenn ihm der Verlust seiner Reichtümer und seiner Macht und somit Machtverlust droht, ist dies für ihn eine echte Gefahr.
Zukunftsperspektive: Länderübergreifende Ermittlungen
„Es muss in aller Klarheit gesagt werden, dass es sich nicht nur dann um Mafia handelt, wenn sie schwere Verbrechen begeht, wenn sie die Führung und Kontrolle über bestimmte Geschäftsfelder übernimmt oder sich illegale Profite oder Vorteile sichert. Nach heutiger Definition muss man jedes Verhalten als mafiös bezeichnen, das tiefgreifend in unser aller Leben eingreift. Das ist die Mafia des dritten Jahrtausends, und diese ist nicht so leicht auf den ersten Blick zu erkennen. Nicht alles ist Mafia, aber das, was die Mafia heute ausmacht, müssen wir alle, in Italien wie im Ausland, sofort identifizieren können, ohne um den heißen Brei herumzureden.“
Ganz im Sinne dieses Appells von Lombardo lässt sich konstatieren, dass die Antimafia-Ermittlungsarbeit in Europa insgesamt sowie in Deutschland enorme Fortschritte macht. Hier soll vor allem an die Operation Stige im Jahr 2016 erinnert werden, die zur Verhaftung zahlreicher Verdächtiger in Italien und Deutschland geführt hat, sowie die Operation Pollino, für die das erste Mal ein „Joint Investigation Team“ gegründet wurde, ein gemeinsam von der italienischen, deutschen und niederländischen Polizei gebildetes Ermittlungsteam (darüber haben wir hier berichtet). Ein weiteres Positivbeispiel ist die Stadt Berlin, die zunehmend die Konfiszierung als strafrechtliches Mittel gegen die Clan-Kriminalität (hier unser Bericht) anwendet.
Das Konzept Mafia wird oft missverstanden, vor allem von Deutschen, denn noch immer umgibt sie der Mythos des „Paten“ und der Folklore. Deshalb ist es umso wichtiger, dieses Phänomen in Deutschland wie im Rest Europas genauer zu erforschen: Nur so können wir es schaffen, die organisierte Kriminalität effizient zu bekämpfen.