Zum „BKA-Lagebild Organisierte Kriminalität 2020“

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„BKA-Lagebild Organisierte Kriminalität 2020“ – ein verzerrtes Bild über die Gefährlichkeit der Organisierten Kriminalität und der von ihr verursachten Schäden

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat am 1. November 2021 sein Lagebild 2020 zur Organisierten Kriminalität veröffentlicht. Zusammengefasst kommt das BKA zu folgenden Feststellungen:

  • Die Organisierte Kriminalität hätte im vergangenen Jahr einen Schaden von mehr als 800 Mio. Euro angerichtet, was eine Steigerung um 4% im Vergleich zum Vorjahr bedeute. Die deliktisch erlangten Vermögenswerte lägen bei über einer Milliarde Euro und seien dadurch um 60 % höher als im vergangenen Jahr.
  • Auch die Gewaltbereitschaft der Tatverdächtigen, insbesondere in der Organisierten Rauschgiftkriminalität, nehme zu. Das BKA schlussfolgert daraus, dass OK-Gruppierungen zunehmend bereit seien, eigene Mitglieder, konkurrierende Gruppen sowie Mitglieder von Strafverfolgungsbehörden einzuschüchtern und Gewalt gegen sie anzuwenden.
  • Die Anzahl der Tatverdächtigen in den rund 600 vom BKA geführten Ermittlungsverfahren sei 2020 leicht gesunken auf rund 6500 Personen. Der Großteil der Gruppen, die vorwiegend Bezüge zum Ausland hätten, bestünden aus bis zu zehn Tatverdächtigen, fast ein Drittel aus bis zu 50 Tatverdächtigen. Die größte Gruppierung hätte 158 Personen umfasst.

Bei den bescheidenen Zahlen über die von der OK verursachten Schadensvolumina reibt man sich verstört die Augen. Sie werfen die Frage auf, ob diese Zahlen die von der Politik beschworene Gefahr der OK für Gesellschaft und legal agierender Wirtschaftssubjekte treffsicher abbilden und untermauern können.

Die dem Lagebild des BKA zugrunde gelegte Definition der Organisierten Kriminalität tut dies gerade nicht. Deshalb sind polizeiliche Lagebilder nicht imstande, eine einigermaßen realistische Übersicht über die von der Organisierten Kriminalität illegal generierten Profite zu liefern; selbst unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich diese Zahlen nur auf die beim BKA geführten Verfahren beziehen, die sich nicht zwingend im Stadium eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens befinden müssen. Diese Zahlen werden im Übrigen nicht mit den statistischen Angaben in den getrennt erstellten Lageberichten der Ermittlungsbehörden der Länder, sofern diese öffentlich zugänglich sind, verknüpft.

 „Peanuts“ im Lagebericht und die tatsächliche Dimension der Wirtschaftskriminalität

Das BKA erklärt in seinem Vorspann zu den jährlichen Lageberichten, dass Organisierte Kriminalität (OK) „viele Facetten“ hätte – „vom Menschen- oder Drogenhandel über Wirtschaftskriminalität bis hin zu Ladendiebstählen oder Wohnungseinbrüchen“!

Zur „Facette Wirtschaftskriminalität“: Allein durch Finanz- und Anlagebetrug sowie durch Steuerhinterziehung zulasten des Gemeinwesens entstehen in Deutschland jährlich Schäden in dreistelliger Milliardenhöhe. Zwei Beispiele:

Bei dem betrügerischen Zusammenbruch des im Deutschen Aktienindex DAX gelisteten Wirecard-Konzerns im vergangenen Jahr muss davon ausgegangen werden, dass 2 Mrd. Euro  aus der Konzernbilanz dieses Zahlungsdienstleisters „verschwunden“ sind, Banken durch Kreditvergabe an Wirecard 3,2 Mrd. Euro verloren haben und Anlegern inklusive Kleinaktionären durch falsch ausgewiesene Kredite, Kreislaufbuchungen (sog. Round-Tripping) und überhöhte Kaufpreise von Gesellschaften zur wissentlichen Bereicherung von Managern der Wirecard-Gruppe ein zweistelliger Milliardenschaden entstanden ist.

Oder der Cum-Ex-Steuerbetrug. Der in Deutschland zulasten des Fiskus entstandene Schaden des Fiskus wird auf 35 Mrd. Euro geschätzt, weltweit auf einen dreistelligen Milliardenbetrag. Bei Cum- Ex-Aktiengeschäften ließen sich die beteiligten Investoren, Banken, Fonds oder sonstige Finanzinstitute eine nur einmal bezahlte Steuer mehrfach zurückerstatten.

Solche Fälle aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität sucht man in den Lageberichten vergebens. Stattdessen enthält der Bericht, was die Schadensseite und die Aneignung illegaler Gewinne anbelangt, lediglich „Peanuts“, bei denen das Hellfeld und die Aufklärungsquote für das BKA größer sein mag als das Dunkelfeld bei komplexen Fällen der Wirtschaftskriminalität, wo das BKA und andere Polizeibehörden bei ihren Ermittlungen in der Regel mangels qualifizierten, in ausreichende Zahl vorhandenen Personals passen müssen. Für die Dimension des Problems haben jedenfalls die Lageberichte eine geringe Aussagekraft und verniedlichen im Ergebnis die Gefahren der OK – zumindest was die organisierte Wirtschaftskriminalität anbelangt.

Der verkorkste OK-Begriff des Bundeskriminalamts

Eine Ursache für die geringe Aussagekraft des Lageberichts liegt in dem vom BKA verwendeten Begriff der Organisierten Kriminalität selbst. Die OK-Definition wurde für und in der polizeilichen Ermittlungsarbeit und insbesondere im Vorfeld von Ermittlungsverfahren geschaffen. Er ist nicht im Gesetz, etwa im Strafgesetzbuch (StGB), klar definiert und schon aus diesem Grund unscharf bzw. unterschiedlich interpretierbar.

Der von den Polizeien des Bundes und der Länder verwendete Begriff soll aus folgenden ( nicht additiv, sondern alternativ verwendeten) Elementen bestehen: „Organisierte Kriminalität ist die vom Gewinn- oder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung sind, wenn mehr als 2 Beteiligte auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen,  unter Anwendung von Gewalt oder anderer zur Einschüchterung geeigneter Mittel oder unter Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft zusammenwirken“.

Nach dem BKA-Lagebericht 2018 soll ein weiteres Wesenswirkmal der Organisierten Kriminalität sein, dass die Taten von „ethnisch abgeschotteten Substrukturen“ begangen werden.

Nicht nur gegenüber der vom OK-Begriff nicht erfassten Form der Wirtschaftskriminalität, sondern auch gegenüber der Legalwirtschaft insgesamt ist der Begriff konturenlos. Die Definition bedient sich bestimmter wirtschaftlicher Organisationsformen, die auch für die legale Wirtschaft kennzeichnend sind, sieht man einmal von den Begriffspaaren Gewalt und Einschüchterung ab. Thema „Abgeschottetheit“: Vorstandbeschlüsse und geschäftspolitische Entscheidungen einer (legal handelnden) AG werden und müssen ebenfalls „abgeschottet“ werden. Weiteres schwammiges Merkmal nach BKA-Diktion: „Das Machtstreben“. Welche legal handelnden Finanz- und Industrieunternehmen haben nicht das Interesse, expansiv ihre Markstellung zulasten der Konkurrenz auszudehnen bzw. Profite zu maximieren und sich dafür aufwendig alimentierter Lobby- und Verbandsgruppen gegenüber Politik, Medien, öffentlicher Verwaltung und Justiz zu bedienen?  

Das kaum lösbare Problem klarer Definitionen bei der Beschreibung von kriminellen Phänomenen außerhalb gesetzlicher Normvorgaben besteht also nicht etwa nur bei der sog. Clankriminalität, sondern bei der Definition der Organisierten Kriminalität selbst. Der Begriff basiert auf phänomenologischen Wertungen, die ihren Inhalt nicht in objektiven Tatbeständen des StGB haben und deshalb nicht treffsicher sind und bei denen die Täter und ihre Zugehörigkeit zu Ethnien und Nationalitäten, denen sie angehören, anstelle den objektiv begangenen Taten eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu Teil wird. Bilanzbetrug, Kapitalanlagebetrug etc. also die Deliktsformen der Weiße-Kragen- Kriminalität und der Täter im Nadelstreifen fehlen dabei völlig.

Zu welchen kuriosen Bewertungen diese Kategorisierung führt, zeigen gerade die beiden genannten Beispiele Wirecard und Cum-Ex:

Beiden Fällen ist gemein, dass die Straftaten arbeitsteilig, grenzüberschreitend und organisiert begangen wurden. Anders wäre etwa bei den Cum-Ex Steuerbetrügereien die mehrfachen Auszahlungen nicht abgeführter Kapitalertragssteuer gar nicht durchführbar gewesen. Diese Tatausführung (arbeitsteilig und organisiert) ist aber auch für mafiöse Tätergruppierungen essenziell und unterscheidet sich davon kaum.  Im Oktober 2021 sind europäische Ermittlungsbehörden mit Razzien in Deutschland, Italien und Bulgarien gegen eine Bande vorgegangen, der Umsatzsteuerbetrug, ebenfalls eine Form von Karussellbetrug, in Höhe von mindestens 13 Millionen Euro vorgeworfen wird (mafianeindanke hat berichtet). Drei der insgesamt elf Festgenommenen hätten Verbindungen zur `Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, teilte die europäische Staatsanwaltschaft EPPO mit. Ein solcher Fall würde vom BKA der Organisierten Kriminalität zugeordnet (obwohl in diesen Fällen grenzüberschreitender Kriminalität die „ethnische Abgeschottetheit“ offensichtlich keine Rolle spielte), die beiden erstgenannten Fälle jedoch nicht.

Leider können wir nicht dabei stehenbleiben, die geringe Aussagekraft der Lageberichte zu kritisieren. Parlamentarier, die über Gesetze zur Inneren Sicherheit zu entscheiden haben, brauchen ebenso wie die Öffentlichkeit verlässlichere, belastbarere Daten – auch was die Organisierte Wirtschaftskriminalität anbelangt. Ansonsten werden Gesetze und deren Umsetzung ohne Datenbasis im Blindflug verabschiedet. Diese notwendigen, belastbaren Daten gibt es in Deutschland bis heute nicht. Aus Kostengründen, weil den zuständigen Bundesländern eine detaillierte Erfassung anhängiger und abgeschlossener Ermittlungsverfahren im Bereich von Delikten wie kriminelle Vereinigung oder Geldwäsche sowie in Zusammenhang mit der Einziehung von Vermögensgegenständen zu aufwändig und zu teuer ist. Dies gilt auch und gerade für die beim Statistischen Bundesamt geführte Strafverfolgungsstatistik, zu der die Länder die Daten aus den Ermittlungsverfahren zuliefern müssen. Mafianeindanke hat schon mehrfach Vorschläge unterbreitet, welche Daten in dieser Statistik zusätzlich erhoben werden müssten, um deren Aussagekraft sicherzustellen. Wir werden diese Forderung auch an die neue Bundesregierung richten.