Wie man aus der Mafia aussteigt

Der Kronzeuge Luigi Bonaventura hat sich mit den Mitgliedern von mafianeindanke unterhalten.

Luigi Bonaventura wählt sich in den Zoom-Call ein. Er ist komplett vermummt, trägt die Maskierung aber nicht pandemiebedingt, sondern aus Sicherheitsgründen immer, wenn er sich der Öffentlichkeit zeigen möchte. Am 12. Mai haben sich aktive Mitglieder von mafianeindanke und ausgewählte Gäste im Online-Video-Telefonat intensiv mit dem italienischen Ex-Mafioso und Kronzeugen ausgetauscht. Anlass für das Treffen war die Meldung, dass einer der bedeutendsten Bosse der ’ndrangheta namens Nicolino Grande Aracri beschlossen habe, mit den italienischen Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Mafianeindanke hatte darauf hingewiesen, dass seine Vernehmung auch für deutsche Behörden aufschlussreich wäre. Auch wenn Grande Aracri leider etwa zwei Monate nach der Ankündigung der Kronzeugenschaft und einen Monat nach unserem Treffen mit Bonaventura von der Staatsanwaltschaft als unglaubwürdig eingestuft wurde und sein Geständnis nunmehr als Scheingeständnis gilt, bot das Treffen eine gute Gelegenheit, um im persönlichen Gespräch die Beweggründe eines Kronzeugen für seinen Austritt aus der Mafia nachzuvollziehen und ihn nach seinen aktuellen Lebensumständen und Tätigkeiten zu befragen.

Luigi Bonaventura ist 1971 geboren und ehemaliger ‘Ndrangheta-Boss aus der kalabrischen Gemeinde Crotone. Als Chef des Clans der Vrenna-Buonaventura war er im internationalen Drogen- und Waffenhandel tätig, hat Schutzgeld erpresst, Morde in Auftrag gegeben und auch selbst gemordet. Offiziell leitete er eine Eventagentur und ein Restaurant. Im Jahr 2005 traf der zweifache Vater eine folgenschwere Entscheidung: Bonaventura brach für immer mit seiner kriminellen Großfamilie, seinem Heimatort und der gesamten mafiösen Kultur, 2007 wurde der Verbrecher offiziell zum Kronzeugen.

Kronzeug*innen sind Zeug*innen, die gegen andere Tatbeteiligte aussagen, zumeist gegen Zusage von Strafmilderungen für ihren eigenen Tatbeitrag. Ehemalige Mafiosi, die ihre Haftstrafen abgesessen haben, schützt der italienische Staat außerdem, indem er ihnen einen Identitätswechsel ermöglicht, Personenschutz leistet und ein bescheidenes Grundeinkommen garantiert. Ein Austritt aus der Mafia ist zwar grundsätzlich auch möglich, ohne vor Gericht auszusagen, bedeutet aber im Regelfall das Todesurteil. Sogenannte “Pentiti” (Reuige) aber brechen mit dem mafiösen Gesetz des Schweigens, der “Omertà”. Oft nicht nur zum eigenen Vorteil, sondern auch für die Familie, wie Bonaventura es erzählt. Er wollte seinen Kindern durch den Ausstieg ein Leben ermöglichen, in dem sein Sohn hätte schwul sein und seine Tochter einen Polizisten heiraten dürfen. Diese Freiheit war ihm wichtiger als der Umstand, dass seine Kinder, finanziert vom Mafia-Gehalt, stattdessen auch in Oxford hätten studieren können. Je nachdem, wie sich Zeugenschutzprogramme in verschiedenen Ländern gestalten, können ehemalige Verbrecher und ihre Familien über Kronzeugenregelungen gut geschützt ein gewaltfreies, neues Leben in Sicherheit beginnen. So auch Bonaventura, scheint es zunächst.

Die Thematik ist höchst sensibel und man mag sich fragen, warum wir uns überhaupt persönlich mit einem Mann auseinandersetzen, der mehrere Menschenleben auf dem Gewissen hat. Aber Bonaventura ist eben nicht nur ehemaliger Täter, der knapp fünf Jahre im Gefängnis saß, sondern auch Betroffener des mafiösen Systems. Er hat sich nicht freiwillig dafür entschieden, eine mafiöse Laufbahn einzuschlagen, sondern wurde in eine bedeutende Mafia-Familie hineingeboren. Er selbst bezeichnet sich als “Kindersoldat”. In jungen Jahren musste er bereits an die Waffe, mit zwanzig beauftragte man ihn mit dem ersten Mord. Im Telefonat berichtet er aber auch, dass heutzutage nicht alle Mafiosi zu Auftragsmördern ausgebildet werden, viele beweisen sich als Wirtschaftskriminelle, die polyglott sind und “white collar” tragen. Bonaventura zufolge versteht sich die kalabrische Mafia nicht als Anti-Staat, sondern als eine eigene Zivilisation, als eigene Kultur, als “eigentlicher” Staat – mit der Begründung, dass es sie schon länger gebe als das Königreich Italien, und dass sie über eine eigene Miliz und einen eigenen “Sozialstaat” verfüge. Dass die Mafia Arbeit und Gemeinschaft schaffe, sei jedoch ein Mythos. Es herrsche das Gesetz des Stärkeren, man bereichere sich an seinem Nächsten. Und dennoch leben die Mafiosi mitten unter uns und sind im Alltag nicht von anderen Menschen zu unterscheiden.

Bonaventura hat jedoch begriffen, dass man den unsichtbaren “Mafia-Pass” auch wieder abgeben kann, auch wenn die Vergangenheit an einem haften bleibt. Seit dem Ausstieg hat er mit mehr als einem dutzend Staatsanwaltschaften zusammengearbeitet. Seine Aussagen in diversen Polizei-Operationen, darunter Malapianta, San Michele, Aemilia (und der im Januar begonnene Maxiprozess Rinascita Scott), haben dazu beigetragen, die innere Struktur und Arbeitsweise der ‘ndrangheta besser zu verstehen und hunderte Mafiosi hinter Gitter zu bringen.

Kronzeugen sind nicht nur geläuterte Mafiosi, sondern ein Kerninstrument der italienischen Strafverfolgung. Durch seinen Mut inspirierte Bonaventura noch weitere Mafiosi zur Kooperation mit den Behörden. Beispielhaft zeigte er auf, dass ein anderes Leben zwar auch nicht einfach, aber möglich ist. Heute setzt er sich mit seinem Verein “Sostenitori dei Collaboratori e Testimoni di Giustizia” für die Interessen von Kronzeugen (und in Italien davon abgegrenzte “Gerichtszeugen”) ein, vernetzt und berät sie und ihre Familienangehörigen. In diesem Kontext äußert er sich etwa gegen die lebenslange Isolationshaft und bezeichnet sie mit Bezugnahme auf die italienische Verfassung und den Europäischen Gerichtshof als menschenrechtswidrig. Bonaventura steht für die Botschaft, dass jeder Mensch, der seinen Sinneswandel unter Beweis stellen kann, auch eine zweite Chance verdient.

Als Kronzeuge erhält man eine neue Identität, die allerdings in Italien nur innerhalb der Region gilt, in der man gerade lebt. Insofern macht sich Bonaventura strafbar, sobald er eine regionale Grenze überquert und seinen Tarnnamen beibehält. Sein Sohn kann dementsprechend auch nur in der eigenen Region studieren, die Ausbildung zum Polizisten oder das Jurastudium sind ihm verwehrt. Zu viert lebt die Familie von unter 1600 Euro im Monat. Der Kronzeuge sucht auch deshalb die Öffentlichkeit, weil er sich vom Staat nicht ausreichend geschützt fühlt. In einer schriftlichen Vereinbarung hieß es, man wolle ihn wieder ins “Sozialleben eingliedern”. Davon spürt Bonaventura nichts: Das Haus wird nur im Notfall verlassen, er fühlt sich immer noch eingesperrt. Im Hinblick auf den aktuellen Fall Nicolino Grande Aracris sagte er in der Diskussion mit mafianeindanke deshalb, der Schutz der Familie von Kronzeugen müsse Priorität haben.

Was können wir aus Bonaventuras Biographie für den deutschen Kontext lernen, wo mafiöse Zugehörigkeit noch kein eigener Straftatbestand ist? Mafianeindanke hat im vergangenen Jahr ein Aussteigerprogramm für Mitglieder krimineller Organisationen erarbeitet, das vor allem auch präventiv wirken und alternative Lebensweisen aufzeigen soll. Es wird aktuell vom Bezirksamt Neukölln in Zusammenarbeit mit dem Land Berlin umgesetzt und legt den Fokus auf die sogenannte “Clan-Kriminalität” . Wir wünschen uns, dass das Programm bundesweit ausgebaut und umgesetzt wird, sodass es sich auch auf andere Formen der Organisierten Kriminalität anwenden lässt. Es lohnt sich, den Weg aus der Mafia nicht erst dann unterstützend zu begleiten, wenn bereits alles auf dem Spiel steht.