Uwe Mühlhoff, Staatsanwalt von Duisburg: „Die ’ndrangheta in Deutschland und Europa arbeitet nicht allein: Sie arbeitet mit allen kriminellen Gruppen zusammen“

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Wie kam eine der wichtigsten Polizeiaktionen gegen die ’ndrangheta, die Operation Pollino zustande? Bei einer Konferenz im Europäischen Parlament am 5. Februar 2020 stellte der Duisburger Staatsanwalt Uwe Mühlhoff die Ergebnisse der Pollino-Ermittlungsaktion vor. Sie hatte am 5. Dezember 2018 zur Verhaftung von 90 Personen in ganz Europa und Südamerika geführt. Eingeladen hatte die Europaabgeordnete Sabrina Pignedoli von der italienischen 5-Sterne-Bewegung. Die auch als „Europäische ’ndrangheta-Verbindung“ bekannte Operation ist das Ergebnis einer Ermittlungszusammenarbeit zwischen Italien, Deutschland und den Niederlanden, die formell in der so genannten JIT (Joint Investigation Team) zusammengeschlossen sind.

Das JIT Pollino begann bereits 2014 Gestalt anzunehmen, als die niederländischen Behörden auf seltsame Bewegungen italienischer Bürger kalabrischer Herkunft aufmerksam wurden, die sich an der Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden neu gruppierten und Cafés und Bars eröffneten. Also begannen die niederländischen Behörden, zunächst in Deutschland und dann in Italien die Zusammenarbeit zu suchen. Das JIT wurde dank der grundlegenden Unterstützung von Eurojust am 18. Oktober 2016 formell eingerichtet. Die Zusammenarbeit war von Beginn an fruchtbar, denn einige der auf niederländischem und deutschem Gebiet tätigen Familien waren die gleichen: die inzwischen berühmten Familien von San Luca, dem schlagenden Herzen der ’ndrangheta in Kalabrien.

Vor der Schaffung des JIT war es unmöglich, länderübergreifende Ermittlungen produktiv durchzuführen, da es keine Art der Zusammenarbeit zwischen den Polizeikräften der verschiedenen europäischen Länder gab. Hier hat das JIT die Situation verändert: Es ermöglichte allen Akteuren vor Ort die richtigen Informationen und die richtige Unterstützung zu erhalten, allerdings nicht ohne Schwierigkeiten. Staatsanwalt Mühlhoff erinnert sich an eine entscheidende Sache: Nach der Bildung des JIT trafen zwei Rechtshilfeersuchen der Bezirksdirektion für die Bekämpfung der Mafia (DDA) von Reggio Calabria bei der Staatsanwaltschaft in Duisburg ein. Nun, diese Rechtshilfeersuchen waren für deutsche Ermittler, die keine Vorkenntnisse und keine Ausbildung hatten, zunächst unverständlich: „Es gab so viele Namen“, sagt der Staatsanwalt, „und alle schienen uns gleich zu sein: all diese Giorgi, Pelle und so viele Anspielungen auf vergangene Fälle, die wir nicht kannten, wir hatten nicht die Hintergrundinformationen und fragten uns zunächst: Worüber reden sie denn?“ Der Staatsanwalt weist darauf hin, dass die DNA eines Angeklagten, die am Tatort des „Massakers von Duisburg“ gefunden wurde, mit der DNA eines Verdächtigen der Pollino-Ermittlungen übereinstimmte: Es ist daher klar, dass es relevante Verbindungen zwischen dem Massaker von Mitte August 2007 und der jüngeren Operation gibt. Dem Staatsanwalt Mühlhoff  ist es wichtig, zu präzisieren, dass „die am Massaker von Duisburg beteiligten Familien noch immer in diesen Gebieten aktiv und präsent sind“. Merkwürdig ist die Tatsache, dass nur fünfzig Meter vom Amtsgericht Duisburg entfernt eine von einer dieser Familien geführte Bar steht, in der alle Richter regelmäßig Kaffee trinken.

Ein Problem, das von Staatsanwalt Mühlhoff hervorgehoben wird, ist der Personalmangel im Hinblick auf die Ermittlungen gegen die organisierte Kriminalität in Deutschland, insbesondere die mafiöser Art: Die Aufmerksamkeit der Polizei ist sehr hoch, zum Beispiel gegen den Terrorismus, aber die Einsatzteams, die sich mit der Mafia befassen, sind sehr wenige. Im konkreten Fall der Duisburger Staatsanwaltschaft sind in der Gruppe zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität zwischen 10 und 15 Beamte tätig, die sich aber gleichzeitig auch mit Bikern, Banden und arabischen Clans befassen. Das BKA, die deutsche Bundespolizei, hat in dieser Hinsicht einen entscheidenden Beitrag geleistet und sich für die Bearbeitung des Falles zur Verfügung gestellt.

Die Staatsanwaltschaft Duisburg eröffnete die Ermittlung im August 2016 und setzte außerdem verdeckte Kräfte und Spezialeinheiten ein, mit einem speziellen System von Abhörungen, Autoüberprüfungen und Finanzermittlungen. „Zuerst dachten wir, dass die ’ndrangheta allein arbeitet„, erklärt Mühlhoff, „aber dem ist nicht so: Sie arbeitet mit allen kriminellen Gruppen zusammen – Türken, Albaner, Marokkaner – die 58 Angeklagten in der deutschen Untersuchung kommen aus insgesamt zehn verschiedenen Ländern. Sie arbeiten zusammen: Sie kooperieren dort, wo es Geld zu verdienen gibt“.  Und die kriminellen Aktivitäten beschränkten sich nicht nur auf den Drogenhandel, sondern auch auf die Unterstützung von Mitgliedern krimineller Familien und die Geldwäsche durch das Gaststättengewerbe.

Ein wichtiger Teil der Untersuchung war die Überwachung von 195 Telefonnummern, die Tausende von Seiten mit Protokollen von Abgehörtem produzierten, sowie die Entschlüsselung einiger Blackberry-Telefone und EncroChat (Instant-Messaging-Anwendung, die spezielle Sicherheitsprotokolle verwendet). Die deutsche Polizei hatte auch die Möglichkeit, Autos zu überwachen, aber – wie von mafianeindanke vor fast einem Jahr aufgedeckt – wurde die Überwachung von den Angeklagten entdeckt, auch dank des Aufkommens neuer Technologien: Autos der neuesten Generation von Mercedes, BMW und Volkswagen senden eine Benachrichtigung an das Telefon des Besitzers, wenn das Auto geöffnet wird, und die Autofirmen haben sich geweigert, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Die Überwachung hörte jedoch an dieser Stelle auf, da es in Deutschland praktisch unmöglich ist, eine Genehmigung für das Abhören in Privatwohnungen und Büros zu erhalten. Der Einsatz anderer Mittel ermöglichte es jedoch, verdeckte Ermittler innerhalb türkischer Gruppen zu haben, die mit der ’ndrangheta Geschäfte machten. Sie schafften es auch, einen Angeklagten nach Südamerika zu verfolgen, wo er dabei war, eine Ladung Kokain zu verschiffen, die dann nach Europa über die Häfen von Gioia Tauro in Italien und die von Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen in Nordeuropa transportiert werden sollte. Aber nicht nur die Häfen stehen unter der Kontrolle der Clans: Ihr Einfluss reicht bis zu den Flughäfen. Dies ist der Fall bei einer Sendung von 25 kg Kokain, die von Bogota nach Miami und von Miami zum Flughafen Amsterdam in einer Ladung Rosen transportiert wurde. „Wichtig ist in diesem Fall“, so Mühlhoff weiter, „dass die ’ndrangheta-Clans nicht immer die direkte Kontrolle über die Häfen und Flughäfen haben, aber sie kommen dank anderer krimineller Gruppen herein“.

Der Staatsanwalt weist zudem darauf hin, dass die Justizorgane in Bezug auf die Clans immer zu langsam vorgehen: „Sobald wir ein wichtiges Mitglied des Clans verhaftet hatten, gab es innerhalb weniger Wochen bereits jemanden, der ihn ersetzt und die kriminellen Aktivitäten weitergeführt hatte“. Ein weiteres Problem, das die deutsche Polizei hat, ist die Tatsache, dass sie die Bewegungen der Autos anhand des Kennzeichens nicht verfolgen kann: In Deutschland ist es illegal, in den Besitz dieser Daten zu kommen. Ein weiteres Problem, auf das der Staatsanwalt aus Duisburg hingewiesen hat, ist das Fehlen einer nationalen Datenbank: Da Deutschland eine Bundesrepublik ist, hat jedes Bundesland seine eigenen Regeln und vor allem das Datenschutzgesetz ist sehr restriktiv und erlaubt es nicht, sensible Daten länger als sechs Monate zu speichern.

Auf der operativen Seite gab es viele Schwierigkeiten: Es mag trivial erscheinen, aber die Übersetzung der Dokumente ist eine davon. Aus Italien gab es über tausend Seiten lange Untersuchungshaftanordnungen, in denen alle Beweise detailliert beschrieben wurden, was allein für die Übersetzungen eine Zuweisung von mehr als 1,25 Millionen Euro durch die Staatsanwaltschaft Duisburg bedeutete. „Es ist wichtiger, einen guten Übersetzer zu haben als zehn Ermittler“, stellt Mühlhoff fest und weist darauf hin, dass der Austausch von Dokumenten zwischen den verschiedenen Staatsanwaltschaften noch zu komplex und langsam ist. Eine weitere Überlegung des Staatsanwalts konzentriert sich auf die Frage der verschiedenen Gesetze, die jedes Land verabschiedet hat: Jeder tut, was er kann, mit dem, was er hat, also war die Vermittlungsarbeit von Eurojust grundlegend. Mühlhoff erinnert auch daran, dass in Italien die Staatsanwälte, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, sehr oft bedroht und zur Eskorte und einem Leben mit Einschränkungen gezwungen werden: „Ich habe das Glück, es nicht zu brauchen“, sagt der Staatsanwalt. In Italien gibt es bei der Einziehung von Vermögenswerten die Umkehrung der Beweislast, in Deutschland hingegen müssen die Ermittler immer noch beweisen, dass die Vermögenswerte aus kriminellen Aktivitäten stammen.

Ein weiterer merkwürdiger Fall, den Mühlhoff schilderte, war die Beschlagnahme von 3,5 Tonnen Kokain in Antwerpen: Durch die Observierung eines Angeklagten in Guyana konnte die Staatsanwaltschaft Duisburg eine Kokainlieferung nach Antwerpen verfolgen, und als der Fall bei der belgischen Polizei angezeigt wurde, gelang es, die Drogen in einem Boot zu  beschlagnahmen. Die Polizeibehörden versuchten, der Person, die diese Ladung Kokain gekauft hatte, zu überführen und schickten das Schiff mit kokainähnlichem weißen Pulver zum Hafen von Antwerpen, aber die belgische Polizei war nicht vor Ort, als die kriminelle Gruppe die Drogen abholte, warum? Weil es Samstag war und am Wochenende keine Mannschaften zur Verfügung standen.

Ein weiteres wichtiges Element für den Erfolg der Operation Pollino war die Möglichkeit für die Staatsanwaltschaft Duisburg, einen italienischen Rechtsbeistand zu verhören, der Informationen über Deutschland hatte. So skizziert Mühlhoff abschließend Leitlinien für die Zukunft: „Wir brauchen Ausdauer, Motivation und die Fähigkeit, zu lernen und uns an jede Situation anzupassen: Wir haben aus dieser Untersuchung viel gelernt und werden dies auch weiterhin tun. Transnationale Ermittlungen können helfen, auch wenn es nationale Defizite gibt“, fährt er fort, „Mafias wie die ’ndrangheta arbeiten nicht allein, sie sind ein weltweites Netz krimineller Organisationen. Das Puzzle kann nur durch Zusammenarbeit gelöst werden, wir werden vielleicht nicht alle Teile haben, aber zusammen können wir genug Informationen zum Verständnis haben. In Zukunft werden wir viel mehr europäische Zusammenarbeit brauchen, nicht weniger“.