Follow the Mafia – die italienische OK auf TikTok

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Organisierte Kriminalität und Teenager, die Tanzvideos hochladen – was haben die italienischen Mafias und die chinesische App TikTok gemeinsam? Und wie gefährlich ist dieser Trend?

Sowohl die Mafia als auch TikTok basieren auf der Bildung von Netzwerken, sagt Marcello Ravveduto von der Universität Salerno zum Vice-Magazin. Er ist Professor für Digital Public History und forscht seit Jahren zur Organisierten Kriminalität. Ein Netzwerk an Kontakten, materiell oder digital, verbindet TikTok und die italienischen Mafias, allen voran die neapolitanische Camorra. Diese scheint sich in dem sozialen Netzwerk besonders zu Hause zu fühlen: Mit einer kurzen Suche nach Liedern der populären Musica neomelodica mit einschlägigen Titeln wie „Si sto carcerato“ („Ja, ich bin im Knast“) oder „O Colloquio“ („Besuchstag“) stößt man auf Dutzende Videos von Frauen, die Videos von ihren Männern im Gerichtssaal oder in Freiheit teilen, dazu Kommentare wie „Hier draußen ist es schrecklich ohne dich“ oder „Du fehlst mir“. Auf der anderen Seite werden Entlassungen mit reich geschmückten Festtafeln gefeiert und die Freude der wiedervereinten Familien dokumentiert. Alltag in der Camorra, ungefiltert und für die ganze Welt sichtbar.

Auch die Männer selbst zeigen sich auf dem sozialen Netzwerk. Champagner, teurer Schmuck, auffällige Tattoos – sie demonstrieren, wie beneidenswert ihr Leben ist. Und unterscheiden sich in dieser Hinsicht nicht von anderen Nutzer*innen der sozialen Netzwerke. Die Beschönigung des eigenen Lebens ist eine Tendenz, die sich von Essensfotos und Urlaubsvideos bis zu bearbeiteten Selfies über alle Social Media erstreckt. Dass das im Allgemeinen durchaus negative Folgen haben kann, ist keine Neuheit – Essstörungen, Depressionen, Unfälle auf der Suche nach dem spektakulärsten Selfie, die Liste ist lang. Geht also auch von der Selbstdarstellung der Mafiosi auf TikTok eine besondere Gefahr aus? Zeit, dieses Phänomen zu untersuchen.

Wer ist auf TikTok aktiv?

Vor allem Mitglieder der Camorra. Angefangen hat es mit den jüngeren Camorristi, die TikTok ganz selbstverständlich nutzen, doch inzwischen sind auch die Älteren auf den Geschmack gekommen. Es gibt nicht den einen, zentralen Account, der sie alle verbindet, sondern ein organisches Netzwerk von kleinen Usern, die mal mehr, mal weniger Follower haben. Häufig sind es Frauen, die die Kanäle in der Hand haben, erklärt Ravveduto dem Corriere della Sera. Sie seien auffälliger und könnten mehr Follower gewinnen. Sie zeigen neben endlosen Liebesbekundigungen für ihre Männer Ausschnitte aus ihrem scheinbar sorglosen Leben: Neue Schuhe, Shoppen in teuren Geschäften, Urlaub am Strand. Aus praktischen Gründen sind die Profile oft geteilt, tragen also den Namen beider Teile eines Pärchens. So kann die Frau das Profil weiterführen, während der Mann unglamourös im Gefängnis sitzt.

Auch auf anderen sozialen Medien finden sich Mafiosi unter den Usern, doch nur selten erreichen sie dort eine große Gefolgschaft. Ein bekanntes Beispiel von Facebook ist die Seite des ‘ndranghetistas Vincenzo „Giappone“ Torcasio, „ONORE E‘ Dignita‘“: Auf dieser Seite teilte er Zitate von sich selbst neben Bildern von Rosen und Gute-Nacht-Posts, und das mit knapp 20.000 Followern. Seit er 2017 zu einer dreißigjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, steht die Seite still.

Welche Inhalte teilen die Mafiosi auf TikTok?

Häufige Szenen sind Hommagen an Familienmitglieder im Gefängnis, Motorräder und Tattoos, dazu die Freundin und die „Frati“, also „Brüder“ aus dem Clan. Seltener – oder schwieriger zu finden – sind Videos mit Szenen von Verhaftungen, Waffen, das Durchschneiden von elektronischen Fußfesseln, Horden von Rollern auf den Straßen Neapels bei Nacht. Machtdemonstrationen aller Art, begleitet von Treueschwüren an die „Brüder“. Direkte Gewalt, Drogen oder andere offensichtlich illegale Inhalte sucht man meist vergeblich. Dementsprechend schwer ist es, die Videos sperren zu lassen oder etwa gerichtlich gegen die Camorristi zu verwenden.

Eine bekannte Ausnahme ist ein Video, das im Mai 2020 viral ging. Es zeigt einen Rundgang durch den Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Avellino in der Nähe von Neapel, gefilmt von einem Insassen selbst. Dabei dürfen die Häftlinge keine Mobiltelefone besitzen. Trotz des Aufschreis, der durch die italienischen Medien ging, wurde kein Schuldiger identifiziert. Auf TikTok ist das Video nicht mehr zu finden, doch es bleibt im Internet zugänglich.

Wie erkennt man Inhalte von Camorra-Mitgliedern auf TikTok?

Die Videos der vermutlichen Mafiosi sind leicht zu identifizieren, da sie eine Symbolsprache teilen: Die Musik ist so gut wie immer Musica Neomelodica in neapolitanischem Dialekt, häufig geht es um einschlägige Themen wie Haftstrafen, Ehre und Bruderschaft, sowie die „paranza“, den Clan.

In vielen Videos sind dieselben Emojis zu sehen: Ketten, die für das Gefängnis stehen. Flammen sowie schwarze und SSC Napoli-blaue Herzen. Die Spritze mit Blut, die (Bluts-)Brüderschaft ausdrückt. Löwen, Kronen und Bomben als Symbol von Stärke und Mut. Die Hashtags sind weniger eindeutig, häufig handelt es sich um für TikTok typische Hashtags wie #foryou #perte, um die Reichweite der Videos zu erhöhen. Eine Ausnahme ist #ES17, der an den Camorrista Emanuele Sibillo erinnert, der 2015 im Alter von 20 Jahren von anderen Mafiosi ermordet wurde. Unter diesem Hashtag versammeln sich seine Anhänger auf den verschiedenen Social Media. Auf TikTok kann er in verschiedenen Varianten rund 900.000 Views (!) verzeichnen.

Die Camorristi verstecken sich nicht. Ganz im Gegenteil, sie reiben den Zuschauern ihren Lebensstil richtiggehend unter die Nase – aber stets so, dass sie nicht direkt angreifbar sind. In anderen Worten: Die Mafia hat sich modernisiert und dem Zeitalter der sozialen Medien angepasst. Carlo Bonini, Vizedirektor der Zeitung „La Repubblica“ erklärt der Tagesschau: „Es wäre ein Fehler zu denken, die Mafia käme im Jahr 2021 daher, wie wir es aus ‚Der Pate‘ von Mario Puzo kennen.“

Sind auch deutsche Mafiosi auf TikTok aktiv?

Schwer zu sagen. Die meisten Inhalte sind unschwer Italien zuzuordnen, weil in den Videos beispielsweise Straßen oder Strände zu sehen sind. Auffällige Profile aus Deutschland, die eine große Followerzahl haben, hat mafianeindanke nicht gefunden. Allerdings präsentieren sich auch italienische Mafiosi aus Deutschland im Internet – nur darf man sie hier nicht nennen, deutsche Gesetze verbieten dies.

Warum nutzt die italienische Mafia TikTok?

Angefangen hat dieser Trend ganz natürlich – junge Camorristi nutzen TikTok wie andere Teenager, um ihren Alltag zu teilen. Schnell haben sie gelernt, dass sie mit ihren Videos auch andere Ziele erreichen können: Eine Recherche des Vice-Magazins zeigt, dass gerade junge Banden TikTok als Möglichkeit nutzen, um die Aufmerksamkeit höherstehender Mafiosi zu gewinnen. Sie schrecken auch nicht davor zurück, echte Waffen zu zeigen oder zu filmen, wie sie auf ihren Rollern nachts durch die Stadt fahren und in die Luft schießen (die sogenannte „stesa“ ist ein Ritual, mit dem eine Bande ihre Macht über ein Viertel demonstriert). Damit gehen sie gegen die etablierte Strategie, das Rampenlicht zu meiden.

Gleichzeitig bietet TikTok den Clans die Möglichkeit, die eigene Stärke auszudrücken, ohne direkte Gewalt anzuwenden. Wer auf TikTok (hundert-) tausende Follower hat und einen luxuriösen Lifestyle zur Schau stellen kann, braucht nicht zur Waffe zu greifen. Je weniger Gewalt, desto weniger Polizei, und ergo läuft das Geschäft rund und ungestört – eine Win-Win Situation für die Kriminellen. Denn Aufmerksamkeit ist eine zweischneidige Waffe für kriminelle Organisationen: Auf der einen Seite brauchen sie sie, um sich in ihrem Territorium zu behaupten, auf der anderen Seite schädigt zu viel davon das Geschäft. Auf TikTok kann die Camorra Aufmerksamkeit bekommen, ohne von der Polizei behelligt zu werden. Eine starke kriminelle „Marke“ reduziert die Notwendigkeit, Gewalt anzuwenden, erklärt auch Professor Federico Varese von der Universität in Oxford in der Financial Times.

Kann man hier bereits von einer Kommunikationsstrategie sprechen? Einen strategischen Nutzen können einzelne Mafiosi durchaus aus ihrer Präsenz auf TikTok ziehen, wie eben erklärt. Ob TikTok allerdings gezielt eingesetzt wird, um die Jugend anzuwerben oder gar Kundenkontakt herzustellen, lässt sich nicht sagen. Die meisten der analysierten Profile haben nur eine begrenzte Gefolgschaft und sind nicht gezielt auf Wachstum ausgerichtet.

Ist die Präsenz der Mafia auf TikTok gefährlich?

Die Präsenz einer kriminellen Organisation auf einem weltweit verfügbaren sozialen Netzwerk, dessen Publikum zu einem großen Teil aus Minderjährigen besteht, ist zweifellos problematisch. TikTok-User entdecken neue Inhalte, indem sie auf der „Homepage“ der App, der sogeannten „For You“-Page, durch neue Videos scrollen. Welche Videos das sind, entscheidet der TikTok-Algorithmus – jede*r Nutzer*in erhält eine individuelle Mischung an Videos, basierend auf den eigenen Interessen und verschiedenen Faktoren wie verwendeten Hashtags und Standort. Das bedeutet, dass Videos von Mafiosi theoretisch Nutzer*innen in allen Ecken der Welt erreichen können. Ob sie das tatsächlich tun, ist fraglich – schließlich konkurrieren hunderttausende Inhalte um die Aufmerksamkeit der User.

Gefährlicher kann der Effekt der sogenannten „Filterblasen“ sein, die der TikTok-Algorithmus schafft. Er zeigt Nutzer*innen automatisch immer mehr Inhalte, die Videos ähneln, die sie bereits kennen und die ihnen gefallen. Somit befinden sich User auf TikTok in einer verzerrten, oft einseitigen Variante der Realität. Folgen sie den Profilen von Camorristi oder interagieren viel mit deren Videos, füllt sich ihre For You-Seite schnell mit kriminellen Lebenswegen, archaischen Ehrenkodexen und obligatorischen Gefängnisaufenthalten, als wäre es das Normalste auf der Welt. TikTok wird die Nutzer*innen nicht darauf hinweisen, dass es auch Alternativen gibt und der Weg in die organisierte Kriminalität nicht der einzige ist.

Wie sehr die Mafia-TikToks die Jugendlichen in den betroffenen Gegenden Süditaliens beeinflussen, ist schwer einzuschätzen. Der Einfluss, den Social Media auf Teenager im Allgemeinen haben, wird derzeit erforscht. Eine Studie der Harvard Graduate School of Education von 2017 unterstreicht die Rolle von Eltern oder anderen erwachsenen Vertrauenspersonen für die Entwicklung von digitalen Kompetenzen. Sie sollen Jugendlichen beispielsweise gezielt beibringen, dass ein Social-Media-Feed nicht das realistische Abbild eines Alltags ist, sondern eine kuratierte und bearbeitete Version von Lebensausschnitten. Weiter in die Erforschung von Social Media zu investieren, ist nicht nur für den speziellen Fall der Mafiosi auf TikTok wichtig, sondern auch um gesamtgesellschaftlich einen gesunden Umgang mit sozialen Netzwerken zu finden.

Könnten die Einblicke in das Leben der Camorristi dagegen der Polizei nützlich sein? Das ist nicht auszuschließen. Die Videos können vielleicht nicht direkt als Beweis für ein Verbrechen dienen, aber sie können Aufschlüsse über die Verbindungen von Kriminellen liefern. Das Netzwerk ist das Herz der kriminellen Organisation, und dieses könnten sich Ermittler durch eine Analyse der Profile der verschiedenen Gruppen erschließen: Wer interagiert mit wem? Wer zeigt sich gemeinsam mit wem in den Videos? Wann wird wo gefeiert?

Vielleicht kann TikTok so vom Instrument der Mafia zum Instrument der Antimafia werden.