Das Gratteri-Dilemma

400px Nicola Gratteri

Die jüngsten Anschlagspläne auf Gratteri erinnnern schmerzhaft an die Ermordungen von Falcone und Borsellino

Es klingt wie ein böses Omen: ausgerechnet in dem Jahr, in dem sich die Morde an den berühmten Antimafia-Helden Falcone und Borsellino zum 30. Mal jähren, erfährt die Öffentlichkeit von frappierend ähnlichen Attentatsplänen auf den bekanntesten Antimafia-Staatsanwalt der Gegenwart: Nicola Gratteri. Anfang Mai schrieben mehrere italienische Zeitungen, dass die ‘ndrangheta den Konvoi des Oberstaatsanwalts von Catanzaro auf dessen Weg ins Büro mit einer ferngezündeten Bombe angreifen wollte – also ganz ähnlich zu dem tödlichen Sprengstoffanschlag auf Giovanni Falcone bei Capaci am 23. Mai 1992. Pikant dabei: laut dem Fatto Quotidiano, der als erstes einen Artikel zu den Anschlagsplänen veröffentlichte, kam der Hinweis darauf von einer amerikanischen Behörde, die ihre italienischen Geheimdienstkontakte unterrichtete. Diese hätten die Information vorerst intern gehalten und sich lediglich beeilt, Gratteris Eskorte entsprechend zu verstärken; wenige Wochen später wurde die Information dann doch an die Medien durchgestochen. Die Folge war eine Welle der öffentlichen Entrüstung und Solidarität mit Gratteri.

Zwar gibt es fast jedes Jahr Nachrichten über Pläne der Mafia, Gratteri oder Mitglieder seiner Familie zu ermorden. Das offenbar deutlich fortgeschrittene Stadium der Pläne, das Timing vor den Gedenkfeierlichkeiten für Falcone und Borsellino sowie die Umstände rund um das Bekanntwerden der Attentatspläne trugen dazu bei, dass die Angelegenheit wesentlich höhere Wellen schlug. Am 5. Juli fand in Mailand eine Demo mit dem Titel #maipiustragi („Nie wieder (Mafia-)Attentate“) statt, organisiert von Wikimafia und unterstützt u.a. von über 130 Organisationen der Zivilgesellschaft sowie diversen prominenten Antimafia-Kämpfer*innen wie zum Beispiel dem Fernsehmoderator und Schauspieler Pif, der auch ein eigenes Video produzierte.

Gratteri ist ein hervorragender Staatsanwalt, aber auch nicht frei von Fehlern

Von den Überschriften der Zeitungen könnte man den Eindruck bekommen, dass Gratteri glücklicherweise rechtzeitig gewarnt wurde und mit der Demo das außergewöhnliche Engagement der Zivilgesellschaft gegen die Mafia zum Ausdruck kommt, das in Italien so besonders ist. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass es schon länger unter der Oberfläche brodelt und das Verhältnis zwischen Gratteri und seinen Unterstützer*innen sowie der italienischen Innenpolitik bestenfalls als kompliziert zu beschreiben ist. Gratteri hat dem Kampf gegen die ‘ndrangheta sein Leben gewidmet, gilt als italienweit wichtigster Experte zur kalabrischen Mafia und steht deshalb seit über 30 Jahren unter Polizeischutz. Unter anderem leitet er den Prozess „Rinascita Scott“, der seit 2021 in Lamezia Terme stattfindet und medial stets mit dem berühmten Maxiprozess verglichen wird (MND hat berichtet). Gleichzeitig nützt Gratteri seinen Rückhalt in der Antimafia-Bewegung, um Empfehlungen zu geben oder zu kritisieren, sei es gegenüber den Staatsanwaltschaften oder der Politik. Zudem geht er dabei nicht immer diplomatisch vor, sondern hat „einen wenig kompromissbereiten Charakter“ (Corriere della Sera).

Insbesondere mit der kürzlich zurückgetretenen Regierung von Mario Draghi schien Gratteri besonders im Clinch zu sein. Bei der Antrittsrede der Regierung kritisierte er, dass das Thema Mafia im Regierungsprogramm gar nicht vorgekommen war. Mario Draghi nannte er einen ausschließlichen Wirtschaftsexperten, der jedoch hinsichtlich der anderen wichtigen politischen Fragen eher wenig geeignet sei. Die Justizministerin Marta Cartabia bekrittelte er ebenfalls und sagte, dass die Regierung auf der legislativen Ebene nichts unternehmen würde, um gegen die Mafia zu kämpfen, sondern sogar existierende Gesetze demontieren würde. Hinsichtlich der Regierung beschwerte er sich im Allgemeinen über eine „Aura der Unberührbarkeit, die die Medien rund um diese Regierung verbreiten, während sie – zumindest, was die Justiz betrifft – nicht funktioniert“.

Ein besonderer Streitpunkt ist die Justizreform dieses Jahres, die von Gratteri heftig kritisiert wurde. Zur Veränderung des Justizsystems gab es zunächst eine italientypische Volksabstimmung, die von rechtskonservativer Seite vorangetrieben wurde und am 12. Juni stattfand. Das Referendum floppte völlig und ging mit einer historisch niedrigen Beteiligung von 20,9% in die Geschichte ein, ohne das benötigte Quorum zu erreichen. Gratteri nützte den Moment, um aus der geringen Beteiligung, die bei einem derart komplexen Referendum zu erwarten war, auch die Ablehnung der inhaltlichen Vorschläge des Referendums abzuleiten. Teile dieser Inhalte wurden wenige Tage später dennoch auf parlamentarischem Weg durchgeboxt und fanden auf diese Weise den Weg in das Rechtssystem.

Wurden die Inhalte des Referendums also nur von der Bevölkerung nicht verstanden, oder waren sie tatsächlich, wie von Gratteri dargestellt, auch abzulehnen? Auch hier lohnt es sich, genau hinzusehen, wobei sich ein differenziertes Bild ergibt. Beispielsweise schlugen die Promotor*innen der Volksabstimmung die Abschaffung der legge Severino vor, ein Gesetz, das Personen, die wegen diversen Straftaten mit potentiellem OK-Bezug wie Korruption oder Begünstigung krimineller Straftaten vorbestraft sind, das Ausüben öffentlicher Ämter verbietet. In Anbetracht dessen, dass die Mafia in Italien sich sehr häufig auf käufliche Politiker*innen stützt oder ihre eigenen Leute in die Reihen der Politik einschleust, ein äußerst kritikwürdiger Vorschlag. Dieser Punkt war auch nicht Teil der später im Senat verabschiedeten Justizreform, dafür aber ein anderer Punkt, bei dem Gratteri ein starkes Eigeninteresse unterstellt wurde. Dabei handelte es sich um die Erweiterung der Institutionen, die vor der Bestellung von Staatsanwält*innen deren Arbeit fachlich bewerten dürfen, unter anderem durch Anwält*innen und Universitätsprofessor*innen. Gratteri hat nämlich in seiner langjährigen Arbeit gewiss viele Mafiosi hinter Gitter gebracht, sich aber auch bei Einzelfällen oder ganzen Ermittlungsverfahren verzettelt, was seine Kritiker*innen immer wieder hervorheben. Beispielsweise wird ihm vorgeworfen, die Karrieren von Politiker*innen zu ruinieren, die erst inhaftiert wurden mit dem Verdacht, die Mafia im Tausch für Wählerstimmen zu begünstigen, allerdings dann im Verfahren aufgrund mangelnder Beweise freigesprochen wurden. Gratteri wurde daher unterstellt, die Justizreform hauptsächlich deshalb abzulehnen, weil er das Ausgraben von gefloppten Ermittlungen sowie eine kritischere Beurteilung seiner Tätigkeit als Staatsanwalt fürchtet, was negative Effekte auf seine Karriere haben könnte. Gleichzeitig ist auch anzunehmen, dass es zu den größten Herausforderungen für Staatsanwaltschaften gehört, öffentlichen Würdenträgern vor Gericht nachzuweisen, dass sie die ‘ndrangheta begünstigt haben.

Dass Gratteri zunehmend zum Einzelkämpfer wird, hilft ausschließlich der Mafia

Die Analyse der Hintergründe zeigt, wie komplex das Gratteri-Dilemma ist. Besonders im Bezug auf die Volksabstimmung zu Reformvorschlägen im Justizbereich, von denen jedenfalls ein Teil abzulehnen war, ein Eigeninteresse Gratteris aber auch nicht ausgeschlossen werden kann, sind Schlußfolgerungen schwierig. Dies hat zu zwei Fraktionen geführt: auf der einen Seite die große Unterstützerschaft Gratteris, die ihn für seine unzweifelhaften Erfolge als Held feiert und jede Kritik an seiner Person als Diskreditierungsversuch einstuft. Auf der anderen Seite gibt es die Gegner*innen, die ihm vorwerfen, sich Kritik nicht stellen zu wollen und eine Reduktion seines Einflusses zu fürchten. Dazu trägt nicht gerade bei, dass Gratteri wie oben erwähnt selbst äußerst gerne Kritik austeilt und dabei nicht besonders diplomatisch vorgeht.

In Summe führt das zu einer für Außenstehende schwierig zu beurteilenden Situation und erklärt, warum diverse Medien sowie die höheren Ränge der Politik sich mit Äußerungen zu Gratteri eher bedeckt halten. Unter anderem kritisierten Unterstützer Gratteris die ausbleibende Reaktion der italienischen Regierung beim Bekanntwerden der jüngsten Anschlagspläne, wo bei ähnlichen Vorfällen früher Solidaritätsbekundungen üblich waren. Zudem galt er in diesem Jahr als idealer Kandidat für die Nominierung als landesweiter Antimafia-Staatsanwalt, allerdings fiel die Wahl auf Giuseppe Melillo, was vielfach als Folge von Gratteris Nonkonformität und Missachtung seines bisherigen Engagements gedeutet wurde.

Es ist eine verfahrene Situation, bei der nur zu hoffen ist, dass die beiden Fronten wieder näher zusammenfinden. Es liegt nicht im Interesse einer funktionierenden Bekämpfung der Mafia, dass der erfolgreichste Antimafia-Staatsanwalt des Landes zunehmend zum Einzelkämpfer wird, denn auch unter Berücksichtigung seiner Defizite ist seine Arbeit essenziell im Kampf gegen die Mafia und verdient Respekt und Unterstützung von allen Seiten. Dafür sollte allerdings auch Gratteri etwas tun und seine Kritiker*innen überzeugen, indem er transparent mit Verfehlungen umgeht und vermehrt den Diskurs mit der Politik sucht, anstatt ihr über die Medien die Leviten zu lesen. Gleichzeitig verlangt so ein Diskurs auch, dass das Thema Mafia in der nächsten Regierung eine stärkere Gewichtung bekommt, steht Gratteri doch nicht allein mit seiner Meinung, dass das Thema während Mario Draghis Regierungszeit wenig Relevanz genossen hat. Auch der Präsident der parlamentarischen Antimafia-Kommission, Nicola Morra, schlug sich bei der Demo in Mailand auf Gratteris Seite und kritisierte das fehlende Engagement der Regierung. Gefragt, welche Schulnote er den Antimafia-Maßnahmen der Regierung geben würde, nannte er diese „nicht klassifizierbar“, was soviel bedeutet wie ein unbelegtes Schulfach.

Mit dem Ende der Regierung Draghi und den vorgezogenen Parlamentswahlen im September ist schwierig abzuschätzen, wie sich die Situation entwickeln wird. Unabhängig davon zeichnet sich durch die Folgen des Ukrainekriegs eine Krise ab, die die italienische Gesellschaft und Wirtschaft stark treffen wird. Und zu einem Punkt gibt es am Ende tatsächlich keinen Dissens: bisher hat die Mafia noch von jeder Krise profitiert.

Foto: © Niccolò Caranti / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=14783581