David vs. Goliath: Fighting the mafia through social economy

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Am 20 Oktober haben wir uns zusammen mit den Kollegen von Ashoka mit Vincenzo und Manuela der Genossenschaftsgruppe Goel, Magdalena Schaffrin und unserer Mafiaexpertin Verena Zoppei getroffen, um darüber zu sprechen, in welcher Form die Wirtschaft und soziale Innovation erfolgreiche Instrumente im Kampf gegen die Mafia sein können.

Die Geschichte von Vincenzo Linarello ist eine Geschichte des Wandels, Rechts und Glück. Die Genossenschaft Gruppo Goel entsteht als Antwort einer Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern, die sich zwei wesentliche Fragen stellte: Warum ist Kalabrien eine der am schlechtesten angesehenen Regionen auf europäischem Niveau? Welche Strategie kann dazu verhelfen, einen wahrhaftigen Wandel in der kalabrischen Gesellschaft hervorzurufen?

Die Antwort auf die erste Frage liegt in der Unsicherheit, die die Region kennzeichnet. Mit einer Arbeitslosenquote von 23% – und 65% Jugendarbeitslosigkeit, nach den Daten von ISTAT 2015 – ist die sozio-ökonomische Situation Kalabriens die Schlechteste des Landes und am Ende in Europa. Ferner ist, laut Linarello, diese sozioökonomische Unsicherheit das Ergebnis eines wohl durchdachten Projektes einer Seilschaft von Personen, bestehend aus zwei Gruppen, die in der Unsicherheit ein geeignetes Mittel gefunden haben, ihre eigenen Interessen zu befriedigen. Es handle sich hierbei um eine Minderheit der organisierten kalabrischen Kriminalität, ca. 10%, die über 90% des Vermögens der ‘ndrangheta verfügt (die anderen 90%, so erzählt Vincenzo, leben ein Leben in Armut), die in Allianz mit Geheimbünden und Freimaurer-Logen ein Netzwerk aus mächtigen verwickelten und korrupten Personen bilden. Auf welche Art und Weise dient jene Unsicherheit nun der Umsetzung ihrer Interessen? Nun, die Unsicherheit erzeugt Abhängigkeit, und die Abhängigkeit erlaubt es, die Stimmen der Bevölkerung zu kontrollieren, welche wiederum Zugang zur Kontrolle von öffentlichen Investitionen ermöglicht.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen diesen geheimbünden, der „Massoneria“ und der Elite der ‘Ndrangheta? Die kriminellen Gruppen sammeln die Stimmen in ihrem Gebiet und bieten sie den Politikern an. Der Politiker, der akzeptiert, muss, um den Gefallen wiedergutzumachen, die wichtigsten Posten innerhalb der öffentlichen Administration durch Mafiosi besetzen. Dabei handelt es sich um jene Positionen, die die Macht haben, Autorisierungen zu erlassen oder die Prioritätenabfolge bestimmter Arbeiten an (mafiöse) Bedürfnisse anzupassen (Kredite, Arbeitsautorisierungen, Gesundheitssystem etc. ). Auf diese Weise erlangen die Politiker genügend Stimmen und die ’ndrangheta die Kontrolle über das Territorium – und alles geschieht ohne Blutvergießen.

Was die Beantwortung der zweiten Frage anbelangt, „Was muss getan werden, damit in der kalabrischen Gesellschaft ein tatsächlicher Wandel erreicht wird?“, gilt es zwei Dinge zu berücksichtigen: Zum einen ist es offensichtlich, dass es unmöglich ist, das System individuell zu ändern. Zum anderen liegt es auf der Hand, dass es nicht ausreicht, nur davon zu reden „das Richtige zu tun“. Das, was Kalabrien braucht (und so auch jedes andere Land, das einer Renovation bedarf), ist die Schaffung einer überzeugenden und siegessicheren Alternative. Eine Alternative, die fähig ist, eine Gruppe von Personen zu retten, ihnen hilft zu wachsen, und ihre Entscheidung so zum Beispiel macht, dem andere folgen. Nach diesem Prinzip entstand jene Alternative, die heute die Genossenschaftsgruppe Goel darstellt.

Das erste Kernstück war die Gründung der landwirtschaftlichen Genossenschaft. Den entscheidenden Unterschied machte hierbei eine Gruppe von Landwirten, die Bedrohungen von lokalen ’ndrangheta Mitgliedern erhielt und Opfer von Sachbeschädigungen wurde: Anstatt sich an den Boss zu wenden, um Schutz zu erbitten, wandten sich die Landwirte an die Gruppe Goel. So wurde die erste Genossenschaft der Opfer von Bedrohung ins Leben gerufen. Ihnen ist es gelungen, indem sie sich innerhalb der Gruppe Mut gemacht haben und sich von der öffentlichen Meinung haben bestärken lassen, einen eigenen wirtschaftlichen Kreis als Alternative zu jenem mafiösen Ring zu schaffen.

Und ihr Einsatz hat Früchte getragen: Heute verkaufen die Mitglieder von Goel Orangen zu einem Preis von 0.40€/kg, gegenüber 0.05€/kg der großen Vertriebe (wie ist es möglich, die Ausbeutung der Handarbeit mit solchen Preisen zu stoppen?) und garantieren ihren eigenen Mitarbeitern arbeitswürdige Konditionen. Denn ein Credo von Goel ist es, aufzuhören, über Ethik zu sprechen und die ethische Wahl als die einzig Richtige zu betrachten. Die ethnische Wahl muss jene sein, die gewinnt, überzeugt, und die den wirtschaftlichen Erfolg antreibt, denn weshalb sollte sie sonst gewählt werden? Diesem Prinzip folgend, hat die Goel Gruppe expandiert und für die Besetzung jener Positionen gesorgt, die die Basisbedürfnisse der BürgerInnen erfüllen und normalerweise von korrupten Personen an Mafiosi übertragen werden. Dadurch sind sie auch im Gesundheits-, Tourismus- und Wohlfahrtsbereich vertreten, sowie im Bereich für die Aufnahme von MigrantInnen. Letztlich haben sie sogar für die Erhaltung einer antiken Kunst gesorgt, die bereits zu verschwinden drohte und so die erste ethische Marke der gehobenen Mode in Italien gegründet, die den Namen Cangiari trägt.

Auf diese Weise hat die Genossenschaftsgruppe Goel eine gültige und überzeugende Alternative geschaffen. Für diejenigen,  die nicht die Möglichkeit haben Teil der Gruppe zu werden, repräsentiert Goel ein wichtiges Erfolgsbeispiel: Die Wahl der Legalität ist nicht diejenige der Personen, die nicht verstehen „wie die Dinge funktionieren“, sondern die Wahl jener, die intelligenter sind!

Wenn ein Mitglied der Gruppe durch einen Clan der ’ndrangheta Sachschaden erleidet (denn dies ist gängig und der Kampf gegen die Mafia-Clans endet hier nicht) organisiert Goel eine große Demonstration in Form eines „Konterfestes“: Die Kommune vereint sich zur Unterstützung des Opfers und hilft ihm bei dem Wiederaufbau. Wird ein alter Traktor in Brand gesteckt, schenkt die Kommune dem Landwirt zwei neue Trecker! Und darüber hinaus haben sich alle bei der Feier, der Demo, amüsiert: Ein klares und starkes Zeichen, um zu entscheiden, auf welcher Seite es zu stehen gilt.

Warum interessiert all das in Deutschland? Weil es in der gesamten Bundesrepublik 230 Clans mit kalabrischen Ursprüngen gibt, 1200 Mitglieder, darunter Sympathisanten und Kollaborateure, und 283 Mitglieder der ’ndrangheta (Quelle des BKA aus 2008 & 2014). Die Gelder der rechtswidrigen Taten werden nach Deutschland gebracht, wo die Politik ausländischen Investitionen gegenüber sehr liberal ist. Dazu reichen die rechtlichen Mittel, illegale Kapitalflüsse und somit Geldwäsche und Steuerhinterziehung zu verhindern, nicht aus. Die Mafia ist also auch hier anwesend und dies in ihrer tückischsten und verwurzeltsten Form: in der (deutschen) Wirtschaft. Sie muss nicht mehr schießen, das ist klar.

Die deutsche Zivilgesellschaft trägt demnach die Verantwortung, die Ausbreitung der Mafia in der eigenen Wirtschaft zu boykottieren, indem sie sich gegen rechtswidriges oder intransparentes Verhalten ausspricht und es zur Anzeige bringt und sich mit der eigenen Kaufkraft dafür entscheidet, den mafiösen oder korrupten Ring nicht zu unterstützen, sondern jene Alternativen, wie die Gruppe Goel oder Addiopizzo. Die Hilfsmittel zur Erkennung von guten Ökonomien gibt es und wir von Mafia? Nein, danke! e.V. setzen uns dafür ein, diese Informationen zu besorgen.

Auch Themen, die augenscheinlich nichts mit der Mafia zu tun haben, wie das kritische Konsumverhalten und ethische Mode, können wahrhaftig eine Verbindung mit dem Kampf gegen organisierte Kriminalität aufweisen, und sie helfen uns dabei, unsere Botschaft an ein breiteres Publikum heranzutragen. Der Raum, den das Social Lab in Berlin uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, war gefüllt mit vielen interessierten Personen, die sich bisher möglicherweise eher um Mode und weniger um die Mafia gekümmert haben, wir hätten uns keine besseren Gegebenheiten wünschen können.