Eine geeinte ’ndrangheta hat Europa im Griff

Dna

Die ’ndrangheta hat eine einheitliche Struktur und EIN Entscheidungszentrum. Das ist eines der Ergebnisse des jüngsten Jahresberichtes des Nationalen Staatsanwaltes und der italienischen Direzione Nazionale Antimafia und Antiterrorismo (DNA = Nationale Antimafia- und Antiterrorbehörde). Das Dokument wurde im April 2017 veröffentlicht und behandelt die Aktivitäten von Juli 2015 bis Juni 2016. Das Resultat weist auf völlig neue und zentrale Charakteristika hin, die für den Kampf gegen das organisierte Verbrechen vom Typ ’ndrangheta wichtig sind, vor allem im Lichte der seit Jahren herrschenden Überzeugung, es mit einem generell horizontalen kriminellen Phänomen zu tun zu haben. Der Prozess „Infinito“ der Staatsanwaltschaft Mailand, der mit der endgültigen Verurteilung von 92 Angeklagten schloss, bestärkte die Sicht einer einheitlichen ’ndrangheta, welche die Unterteilung in Familienclans ein gutes Stück weit hinter sich gelassen hat.

Der DNA-Bericht führt weitere wichtige Neuigkeiten an, die die Struktur, die Aktivitäten und die Stellung der ’ndrangheta und anderer krimineller Organisationen vom Typ Mafia in Italien und in nicht traditionellen Gegenden betreffen. Von zentraler Bedeutung erweist sich die Entdeckung, dass die ’ndrangheta sich ein einziges Entscheidungs-Gremium gegeben hat, die so genannte Cupola (Kuppel). Dass es sie gibt, wurde selbst hochrangigen Vertretern der Organisation verheimlicht. Diese Cupola setzt sich aus ausgewählten ’ndranghetisti und sehr wichtigen Vertretern von Institutionen und Berufen, die mit Geheimdiensten und Freimaurerlogen verflochten sind, zusammen. Von dieser Entscheidungseinheit, auch „Santa“ (Heilige) genannt, hat nur eine äußerst beschränkte Anzahl von ’ndranghetisti Kenntnis.

Der Bericht teilt auch die Namen von Verhafteten mit, die beschuldigt werden, der „Kuppel“ anzugehören: es stechen die Namen von Vertretern der Institutionen hervor wie z. B. Francesco Chirico, hoher regionaler Beamter und jahrelang im Dienst der Kommune von Reggio Calabria tätig, und von zwei Politikern: Antonio Caridi, ehemals bis zu seiner Aufhebung Senator der Republik, und Alberto Sarra, Regionalrat von Kalabrien.

Die DNA kam zu dem Schluss, dass sich die ’ndrangheta „in allen neuralgischen Sektoren von Politik, öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft“ eingenistet und sich dadurch beträchtliche Gelegenheiten geschaffen hat, sich nicht nur durch den klassischen illegalen Handel zu bereichern, sondern auch und vor allem durch die Behinderung des öffentlichen Geldumlaufes auf kommunaler, staatlicher und europäischer Ebene. Daher ist es wichtig, die Ermittlungskräfte hinsichtlich der Beziehungen zwischen Mafia und Unternehmertum zu bündeln und sich auf Ermittlungen zu Geldflüssen zu konzentrieren, angefangen bei kommunalen Ausgaben über staatliche bis hin zu europäischen Ausgaben – Maßnahmen, mit deren Umsetzung Italien schon begonnen hat. Im letzten Jahr wurde tatsächlich schon eine beträchtliche Zunahme der Datenanalysen über verdächtige Geschäfte im Vergleich zu früheren Jahren verzeichnet.

Die Mafien in Deutschland

Dass die Mafien, besonders die ’ndrangheta, nun seit vielen Jahren Nordeuropa und Deutschland erreicht haben, ist den Ermittlungsbehörden bekannt. Trotzdem bleibt die Notwendigkeit, diese Informationen zu verbreiten, eine Priorität. Der DNA-Bericht unterstreicht hier die Aktualität, indem er ausführt, dass ganze Landstriche in Holland, Belgien und Deutschland geradezu „Gewerbegebiete“ der ’ndrangheta darstellen, die sich dauerhaft in diesen Gebieten eingerichtet hat. Dabei werden enge Kontakte nach Kalabrien unterhalten, auch um sich  stark zu koordinieren. Trotzdem haben die Akteure vor Ort zugleich einigen Spielraum und relative Unabhängigkeit. In jedem Fall ist die getreue Nachahmung kalabrischer Strukturen auch in nichttraditionell mafiös verseuchten Gegenden, auch im Ausland, beachtenswert. Es gibt verschiedene „Gewerbe“-Aktivitäten: Die Geldwäsche gesetzwidriger Einnahmen, die in Deutschland durch eine laxe Gesetzgebung erleichtert wird; außerdem bietet die Nähe zu neuralgischen Zentren des Rauschgifthandels, wie die Häfen von Hamburg, Rotterdam oder Antwerpen günstige Bedingungen für den logistischen Transport der Drogen. In diesem Sinne haben sich sowohl die ’ndrangheta wie auch die Camorra als Protagonisten der logistischen Leitung des Heroin- und Kokainhandels hierzulande etabliert und unterhalten Beziehungen auch zu kriminellen südamerikanischen und marokkanischen Mittelsmännern (vor allem die Camorra). Beachtenswert sind auch Beziehungen zwischen camorristischen Organisationen und ’ndranghetistischen Verbänden, die bei der Leitung derartigen Handels zusammenzuarbeiten scheinen.

Die Nähe zu den Häfen von Hamburg und Amsterdam erleichtert auch einen anderen illegalen Handel, der fest in der Hand der Mafiaverbände liegt, nämlich den mit imitierter Ware. Das Fälschen ist ein Vergehen, das der örtlichen Wirtschaft erheblichen Schaden zufügt und dessen Ausübung sich heute als hoch entwickelt herausstellt. Die Mafiagruppen mit dem Drang zum Unternehmertum haben diesen illegalen Markt tatsächlich in ein gewinnbringendes professionelles Geschäft umgewandelt, indem sie die Möglichkeiten der Globalisierung ausnutzen, um den Kontrollen zu entgehen. Ein Beispiel dafür ist die geographische Zersplitterung der einzelnen Herstellungsabläufe der Waren (auch mit Sub-Lieferanten), die die Identifizierung der tatsächlichen Auftraggeber erschwert. Die DNA erhofft sich eine wirksamere internationale Zusammenarbeit bei der Niederschlagung der internationalen Kriminalität und verweist auch auf das italienische Gegenmodell als „best practice“ in diesem Sinne.

Antimafia-Operationen in Deutschland und der Schweiz

Im Zeitraum zwischen Juli 2015 und Juni 2016 wurden viele erfolgreiche Operationen gegen Clans unternommen, die sich zwischen Deutschland und der Schweiz angesiedelt haben. Im Zuge der Operation „Helvetia“ wurde die Existenz eines  Ablegers in Frauenfeld im schweizerischen Kanton an der Grenze zu Deutschland ausgemacht und seine Verbindung zum Leitungsgremium, dem Crimine di Polsi (Kalabrien), durch den Mittelsmann Giuseppe Antonio P. bewiesen. Bei dieser Operation wurden in Italien Antonio N. und Raffaele A. verhaftet und vom Gericht in Reggio Calabria zu einer Gefängnisstrafe von 14 bzw. 12 Jahren verurteilt. Weitere 16 Verdächtige warten auf ihre Auslieferung und befinden sich noch in der Schweiz.

Die Operation „Rheinbrücke“, durchgeführt von den Carabinieri aus Reggio Calabria, und der DIA in Zusammenarbeit mit dem BKA, hat zehn ’ndranghisti der Gruppe in Rielasingen (Deutschland) Untersuchungshaft eingebracht und zu Verurteilungen geführt.

Die internationale Kooperation

Die Zahl der Anfragen nach internationaler Zusammenarbeit bei Delikten organisierter Kriminalität und heute auch bei Terrorismus nimmt ständig zu: entweder aus größerer Kenntnis der Ermittler bezüglich der Vorteile der internationalen Hilfsmittel der europäischen Gesetzgebung oder aus vermehrter Notwendigkeit wegen der Wandlungsfähigkeit der organisierten Kriminalität. Eine Mischung beider Faktoren ist wohl die wahrscheinlichste Antwort.

Bevor aber eine solche Kooperation am wirkungsvollsten sein kann, empfiehlt die DNA, zum verbesserten Erwerb von Beweisen parallele Ermittlungen einzuführen. Das wäre eine Möglichkeit, die internationalen Gesetzeslücken zu umgehen. Was augenblicklich bei Antimafia-Fahndungen stattfindet, ist oft eine nationale Ermittlung einzelner Verbrechen, die im jeweiligen Land verübt werden (z.B. Rauschgifthandel in Holland, Geldwäsche in Deutschland usw.) da es auf internationalem Gebiet den Straftatbestand der verbrecherischen mafiösen Vereinigung nicht gibt. Die logische Konsequenz dieses „modus operandi“ ist es daher, dass man kein logisches globales Bild der komplexen Strukturen, wie es die Clans sind, erhält. Die einheitliche Bedeutung des Phänomens Mafia geht so verloren. Ein sofortiger Informationsaustausch von Ermittlungen gegen Mafiaclans auf internationaler Ebene wäre daher eine wünschenswerte Lösung für eine wirkungsvollere Zusammenarbeit in Erwartung einer verbesserten Gesetzgebung.